Herz dder Pflicht
beim Schießen nicht aufgepasst hat“, versuchte Richard die Angelegenheit herunterzuspielen. Natürlich war er sich nur allzu bewusst, dass er das Ziel des unbekannten Schützen gewesen war und nicht ein Vogel oder ein Kaninchen.
„Die Kugel steckt hier in der Baumrinde“, verkündete Bragg. „Wünschen Sie, dass ich sie heraushole?“ Richard schüttelte den Kopf. Pandora, die leichenblass geworden war, hatte sich während dieser Szene ungewöhnlich still verhalten.
„Was hat Sie dazu bewogen, sich hinzuwerfen, Sir?“, fragte Jack eifrig.
„Ich bin gestolpert“, log Richard, „und das war mein Glück.“
Die Antwort stellte Jack zufrieden, Pandora jedoch nicht. Ihr war klar geworden, dass der ruhige und anscheinend harmlose Mr. Ritchie wieder einmal Mittelpunkt eines merkwürdigen Vorfalles geworden war.
Haarscharfes Entkommen vor einem Schuss, unerwartete Reitkünste, die Brille mit den ungeschliffenen Gläsern und ziemlich überraschende Fortschritte beim Kricketspiel – das alles hatte zur Folge, dass sie sich immer öfter Fragen stellte, die ihn betrafen. Braggs Bemerkungen einem Mann gegenüber, der ihm angeblich fremd war, verwirrten sie ebenfalls. Die Art, wie die beiden miteinander umgingen, klang mehr nach alten Bekannten als nach Angestellten, die sich zufällig in einem großen Haus kennengelernt hatten.
Richard klopfte sich den Staub von der Kleidung. Ihm war klar, dass seine gescheite Liebste langsam misstrauisch wurde. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass an diesem Abend bei Howell’s End alles gut gehen würde und die Notwendigkeit, sich zu verstellen, danach entfiel, so dass er ihr als derjenige gegenübertreten konnte, der er wirklich war.
In der Zwischenzeit mussten er und Bragg sich bemühen, möglichst harmlos zu wirken, und hoffen, dass während der nächsten Stunden nichts Unerwartetes passierte.
„Es ist schiefgegangen?“, brüllte Henry Waters seinen Helfershelfer an. „Wie meinen Sie das? Hatten Sie ihn nicht im Visier, als Sie abgedrückt haben?“
Joss brummte zurück: „Bitte um Vergebung, Sir, aber er ist den ganzen verdammten Nachmittag mit Miss Compton, dem Jungen und dem neuen Reitknecht zusammengeblieben. Ich habe nicht gewagt zu schießen, um nicht versehentlich einen der anderen zu treffen. Erst als er allein wegging, bekam ich die Gelegenheit, auf ihn zu zielen. Dummerweise muss er gestolpert sein, gerade als ich abgefeuert habe. Danach konnte ich nur noch zusehen, dass ich wegkam, wenn ich nicht geschnappt werden wollte.“
Henry Waters brüllte erneut: „Ich sagte Ihnen doch, dass der Kerl ein erfahrener Soldat ist und Sie gewieft sein müssen. Trotzdem haben Sie die Angelegenheit vermasselt.“
„Ich könnte es erneut versuchen.“
„Zu spät. Gerissen wie dieser Bastard ist, wird er sich denken, dass es sich bei dem Schuss nicht um eine verirrte Kugel gehandelt hat, und sich entsprechend verhalten. Mit Gewissheit ist er auch dafür verantwortlich, dass William Compton plötzlich wieder so etwas wie Mumm in den Knochen hat. Aber mit etwas Glück können wir die beiden heute Abend fertigmachen.“
Falls der gerissene Bastard nicht zuerst euch fertigmacht, dachte Joss, ohne etwas Derartiges zu äußern.
Zusammen mit Tante Em, Pandora, Jack und William Compton nahm Richard ein frühes Abendessen ein. Für William war die Aussicht, in den nächsten Stunden ausgerechnet die beiden Schurken hinters Licht führen zu müssen, die ihn während des vergangenen Jahres so rücksichtslos erpresst hatten, derart beängstigend, dass er kaum etwas zu sich nehmen konnte.
Die freundliche Tante Em erkundigte sich mit besorgter Miene: „Ist mit dir alles in Ordnung, William? Du siehst elend aus. Und wenn du mir eine persönliche Bemerkung gestattest, ich habe noch nie erlebt, dass du auf deinem Teller herumstocherst, als ob du keinerlei Appetit hättest.“
„Vielen Dank, Tante, aber mir geht es gut“, versicherte William und warf seine Gabel hin. „Ich bin nur etwas müde, das ist alles.“
Mit der gedankenlosen Wahrheitsliebe der Jugend rief Jack fröhlich: „Müde, Willliam? Was könnte dich ermüdet haben? Du warst doch nicht wie Pandora, Mr. Ritchie und ich heute Nachmittag auf dem Land unterwegs.“
Richard mischte sich rasch ein, um den jämmerlichen William daran zu hindern, seine Furcht vor den kommenden Ereignissen zu überspielen, indem er seinen Halbbruder grob anfuhr. „Master Jack, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du keine
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