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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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Plötzlich spürte ich eine Hand
     unter meinem Arm. ›Mein lieber Sir‹, sagte der Kerl, ›ich möchte nicht, daß Sie mich mißverstehen, Sie vor allem nicht, da
     Sie Mr.   Kurtz sehen werden, lange bevor es mir vergönnt ist. Ich hätte es nicht gern, daß er sich eine falsche Vorstellung von mir
     macht   ... ‹
    Ich ließ ihn reden, diesen Papiermaché-Mephisto, und hatte dabei das Gefühl, ich hätte mit dem Zeigefinger durch ihn bohren
     können und nichts in ihm gefunden außer vielleicht ein bißchen lose Erde. Er hatte, ihr begreift es schon, geplant, selbst
     irgendwann stellvertretender Manager zu werden unter dem jetzigen Mann, und ich konnte verstehen, daß die Ankunft dieses Kurtz
     alle beide nicht wenig aus der Fassung gebracht hatte. Hastig sprach er weiter, ich versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Ich
     lehnte mit der Schulter an dem Wrack meines Dampfers, der am Ufer lag wie der Kadaver eines großen Flußtiers. Der Geruch nach
     Schlamm, nach gottverdammtem, urzeitlichem Schlamm, stieg mir in die Nase, die erhabene Stille des urzeitlichen Waldes erhob
     sich vor meinen Augen; auf dem schwarzen Rinnsal glänzten helle Flecken. Der Mond hatte über alles eine dünne Silberschicht
     gelegt – über das üppige Gras, über den Schlamm, über die Wand dichter Vegetation |44| , die höher emporragte als eine Tempelmauer, über den großen Fluß, den ich durch eine dunkle Lücke glitzern sah, glitzernd
     strömte er breit, ohne ein Geräusch dahin. All das war groß, erwartungsvoll, stumm, während der Mann neben mir von sich schwatzte.
     Ich fragte mich, ob die Stille auf dem Antlitz der Unermeßlichkeit, die uns beide anblickte, eine Einladung war oder eine
     Bedrohung. Was waren wir, die wir uns hierher verlaufen hatten? Würden wir das stumme Ding bewältigen können, oder würde es
     uns bewältigen? Ich spürte, wie groß, wie verdammt groß das Ding war, das nicht reden konnte und vielleicht auch nicht hörte.
     Was war dort drinnen? Ich konnte das bißchen Elfenbein sehen, das von dort herauskam, und ich hatte gehört, daß Mr.   Kurtz dort drinnen war. Ich hatte auch sonst schon genug gehört – weiß Gott! Und doch konnte ich mir kein Bild davon machen
     – so wenig, als hätte man mir gesagt, ein Engel oder der Satan sei dort drinnen. Ich glaubte es, so wie ihr vielleicht glaubt,
     es gibt Leben auf dem Planeten Mars. Ich kannte einen schottischen Segelmacher, der überzeugt, ja, absolut sicher war, daß
     es auf dem Mars Bewohner gibt. Auf die Frage, wie er sich ihr Aussehen, ihr Verhalten vorstelle, wurde er zurückhaltend und
     murmelte irgend etwas von ›auf allen vieren‹. Doch wenn man auch nur den Anflug eines Lächelns zeigte, drohte er mit Prügel
     – ein Mann von sechzig Jahren. Ich wäre nicht so weit gegangen, mich wegen Kurtz zu prügeln; aber immerhin ging ich so weit,
     daß ich beinahe log. Ihr wißt, ich hasse, verachte, verschmähe das Lügen, nicht, weil ich aufrechter bin als der Rest von
     uns, sondern einfach, weil es mir zuwider ist. Im Lügen liegt ein Hauch von Tod, der Geschmack der Sterblichkeit – und genau
     das ist es, was ich auf der Welt hasse und verachte   –, was ich vergessen will. Es macht mich elend und krank, als hätte ich auf etwas Verfaultes gebissen. Veranlagung, vermutlich.
     Jedenfalls war ich nahe dran, als ich den jungen Trottel all das glauben |45| ließ, was er sich unter meinem Einfluß in Europa vorzustellen beliebte. In einem Augenblick war ich ebenso ein Heuchler wie
     der Rest der verhexten Pilger. Und das nur, weil mir schien, es könnte diesem Kurtz helfen, den ich damals noch nicht einmal
     gesehen hatte – versteht ihr. Er war nur ein Wort für mich. Den Mann zu dem Namen sah ich nicht mehr als ihr. Seht ihr ihn?
     Seht ihr die Geschichte? Seht ihr irgend etwas? Ich habe das Gefühl, ich versuche euch einen Traum zu erzählen – ein vergeblicher
     Versuch, denn das Traumgefühl läßt sich nicht schildern, diese Mischung aus Widerspruch, Überraschung und Verwirrung beim
     Schaudern über ein sich sträubendes Aufbegehren, die Empfindung, von etwas Unglaublichem gefangen zu sein, die allein das
     Wesen aller Träume ausmacht   ...«
    Er schwieg eine Weile.
    »...   Nein, es ist unmöglich; unmöglich, das Lebensgefühl einer bestimmten Epoche der eigenen Existenz zu erklären – das, was ihre
     Wahrheit ausmacht, ihre Bedeutung – ihr flüchtiges, durchdringendes Wesen. Unmöglich. Wir leben, wie wir träumen –

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