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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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hoffnungsfroher
     machte, als ich seit Tagen gewesen war. Es war eine wahre Wohltat, mich von diesem Kerl ab- und meinem einflußreichen Freund
     zuzuwenden – dem geschundenen, zerbeulten, kaputten Blechbüchsendampfer. Ich kletterte an Bord. Er dröhnte unter meinen Schritten
     wie eine leere Dose Huntley & Palmer Biscuits, die man in den Rinnstein kickt; und auch wenn er weder so solide |48| gebaut noch so schön anzusehen war, was seine Formen anging, hatte ich genug harte Arbeit hineingesteckt, um ihn zu lieben.
     Kein einflussreicher Freund hätte mehr für mich tun können. Das Boot erlaubte mir, ein wenig hinauszukommen – herauszubekommen,
     was ich tun konnte. Nein, ich schätze das Arbeiten nicht. Lieber faulenze ich und denke über all die schönen Dinge nach, die
     getan werden können. Ich schätze das Arbeiten nicht – das tut kein Mensch   –, aber ich schätze das, was im Arbeiten steckt – die Chance, zu sich selbst zu kommen. Zur eigenen Wirklichkeit – für dich
     selbst, nicht für die anderen – wovon kein anderer je wissen kann. Sie sehen nur den bloßen Schein und können nie erraten,
     was es wirklich damit auf sich hat.
    Ich war nicht überrascht zu sehen, daß achtern jemand auf Deck saß und die Beine in den Schlamm baumeln ließ. Ihr müßt wissen,
     ich hatte mich mit den wenigen Handwerkern auf der Station angefreundet, die von den anderen Pilgern natürlich verachtet wurden
     – wegen ihrer mangelhaften Manieren, schätze ich. Es war der Vormann – ein Kesselschmied von Beruf – ein guter Arbeiter. Der
     Mann war schlaksig, knochig, gelbgesichtig und hatte große durchdringende Augen. Er wirkte immer besorgt, und sein Kopf war
     so kahl wie die Innenfläche meiner Hand; doch irgendwie war ihm das Haar beim Ausfallen am Kinn hängengeblieben, und es gedieh
     gut an dem neuen Platz, denn der Bart reichte ihm bis zur Taille. Er war Witwer und hatte sechs kleine Kinder (die er, während
     er hier draußen war, in der Obhut seiner Schwester ließ), und seine Leidenschaft war die Taubenzucht. Er war ein Liebhaber
     und Connaisseur. Von seinen Tauben schwärmte er. Nach Feierabend kam er manchmal von seiner Hütte herüber, um von seinen Kindern
     und seinen Tauben zu erzählen; bei der Arbeit, wenn er unter dem Dampfer im Schlamm herumkriechen mußte, band er sich eine
     Art weiße Serviette um den |49| Bart, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Sie hatte Schlaufen, mit denen er sie an den Ohren befestigte. Abends sah
     man ihn am Ufer hocken und das Tuch mit großer Sorgfalt im Bach ausspülen, dann hängte er es feierlich zum Trocknen an einen
     Busch.
    Ich klopfte ihm auf den Rücken und rief: ›Wir werden die Nieten bekommen!‹ Er sprang auf die Füße. ›Nein! Nieten!‹ rief er,
     als traute er seinen Ohren nicht. Dann wurde er leiser: ›Sie   ... he?‹ Ich weiß nicht, warum wir uns wie zwei Irre benahmen. Ich tippte mir mit dem Finger seitlich auf die Nase und nickte
     geheimnisvoll. ›Gut gemacht!‹ rief er, schnipste mit den Fingern über dem Kopf und hob ein Bein. Ich setzte zu einer Gigue
     an. Wir tollten gemeinsam über das Eisendeck. Der alte Rumpf schepperte fürchterlich, und der jungfräuliche Wald auf der anderen
     Seite des Bachs warf ein donnerndes Rollen zurück zur schlafenden Station. Einigen der Pilger müssen in ihren Hütten die Haare
     zu Berge gestanden haben. Der Eingang der Hütte des Managers leuchtete auf, ein dunkler Schatten erschien, verschwand, und
     eine Sekunde später verschwand auch der Eingang selbst. Wir hielten inne, und plötzlich strömte die Stille, die wir mit unserem
     Getrampel vertrieben hatten, aus allen Winkeln des Landes zurück. Die große Wand der Vegetation, diese überbordende, verschlungene
     Masse von Stämmen, Ästen, Blättern, Zweigen, Ranken, reglos im Mondlicht, wirkte wie der stürmische Vormarsch geräuschlosen
     Lebens, eine rollende Woge von Pflanzen, hoch aufgetürmt, schaumbekrönt, drauf und dran, über den Bach zu branden und jeden
     von uns kleinen Menschen aus seiner kleinen Existenz zu fegen. Und regte sich nicht dabei. Aus der Ferne klang gedämpft ein
     mächtiges Platschen und Schnauben herüber, als würde ein Ichthyosaurus ein Glitzerbad im großen Fluß nehmen. ›Nun‹, sagte
     der Kesselschmied in vernünftigem Ton, ›warum sollten wir auch keine Nieten bekommen?‹ |50| Warum auch nicht, er hatte recht! Mir fiel kein Grund ein, der dagegen sprach. ›Sie kommen in drei Wochen‹,

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