Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
Vom Netzwerk:
allein   ...«
    Er hielt wieder inne, wie in Gedanken, dann fügte er hinzu:
    »Natürlich seht ihr mehr, als ich damals sehen konnte. Ihr seht mich, den ihr kennt   ...«
    Inzwischen war es so finster geworden, daß wir Zuhörer einander kaum noch sehen konnten. Schon seit geraumer Zeit war er,
     der abseits saß, nicht mehr als eine Stimme. Keiner von uns sagte ein Wort. Möglich, daß die anderen bereits schliefen, doch
     ich war wach. Ich hörte zu, lauerte auf den Satz, das Wort, das mir den Schlüssel liefern würde zu dem leichten Unbehagen,
     das die Geschichte auslöste, die sich in der schweren Nachtluft über dem Fluß ohne menschliche Lippen zu formen schien.
    »...   Ja – ich ließ ihn weiterreden«, begann Marlow erneut, |46| »und beließ ihn in dem Glauben an die Macht, die ich angeblich hinter mir hatte. Ja! Dabei hatte ich gar nichts hinter mir!
     Nichts außer dem verfluchten alten zerbeulten Dampfer, an den ich mich lehnte, während er lebhaft von der ›Notwendigkeit jedes
     Mannes vorwärtszukommen‹ redete. ›Und wenn einer hier herauskommt, dann – Sie können es sich denken – nicht, um den Mond zu
     betrachten.‹ Mr.   Kurtz sei ein ›Universalgenie‹, aber selbst ein Genie würde es leichter finden, ›mit dem rechten Werkzeug‹ zu arbeiten – ›mit
     intelligenten Männern‹. Er stelle keine Ziegel her – die natürlichen Gegebenheiten machten ihm dies unmöglich   –, das wüßte ich wohl; und wenn er Schreibarbeiten für den Manager erledige, dann weil kein ›vernünftiger Mann mutwillig das
     Vertrauen seines Vorgesetzten enttäuscht‹. Ob ich das begreife? Ich begriff. Was ich denn noch wolle? Das, was ich wirklich
     wollte, waren Nieten, zum Teufel! Nieten. Um mit der Arbeit voranzukommen – das Leck zu stopfen. Nieten wollte ich. Unten
     an der Küste gab es sie kistenweise – stapelweise Kisten – geplatzte Kisten, kaputte Kisten! Bei jedem zweiten Schritt auf
     dem Stationsgelände dort auf dem Hügel trat man auf Nieten. Nieten rollten hinunter in den Totenhain. Wenn man sich bückte,
     konnte man sich die Taschen mit Nieten füllen – und hier, wo sie gebraucht wurden, gab es keine einzige. Wir hatten Bleche,
     die taugen würden, doch nichts, um sie zu befestigen. Und jede Woche machte sich der Bote, ein einsamer Neger mit der Posttasche
     über der Schulter und einem Stab in der Hand, von unserer Station auf den Weg zur Küste. Und mehrmals in der Woche traf von
     der Küste eine Karawane mit Waren ein – scheußlich glänzender Kattun, vor dem einen schon beim Hinsehen schauderte, Glasperlen
     für einen Penny das Quart, verdammte gepunktete Baumwolltücher. Nur keine Nieten. Dabei hätten schon drei Träger genügt, um
     alles zu bringen, was nötig war, um den Dampfer flottzumachen.
    |47| Jetzt wurde er vertraulich, doch ich schätze, meine Zurückhaltung erschöpfte am Ende seine Geduld, denn er hielt es für angezeigt,
     mich darüber zu unterrichten, daß er weder Gott noch Teufel fürchte, ganz zu schweigen von irgendeinem Mann aus Fleisch und
     Blut. Ich sagte, ich verstünde ihn sehr gut, aber was ich wollte, sei eine bestimmte Menge von Nieten – und Nieten seien auch
     das, was Mr.   Kurtz wirklich wollte – wenn er es nur wüßte. Dabei gingen wöchentlich Briefe an die Küste   ... ›Mein lieber Sir‹, rief er, ›ich schreibe, was man mir diktiert.‹ Ich verlangte Nieten. Es gab Mittel und Wege – für einen
     intelligenten Mann. Er änderte sein Verhalten; wurde sehr kühl und begann plötzlich von einem Flußpferd zu reden; fragte,
     ob es mich, wenn ich an Bord des Dampfers schlief (ich blieb Tag und Nacht bei meinem geborgenen Schatz), nicht störe. Es
     gab hier ein altes Flußpferd mit der schlechten Angewohnheit, ans Ufer zu kommen und nachts über das Stationsgelände zu streifen.
     Die Pilger kamen allesamt heraus und verfeuerten jede Flinte, die sie in die Finger bekamen. Mancher hatte sogar die ganze
     Nacht auf der Lauer gelegen. Doch all die Energie war verschwendet. ›Das Tier ist gefeit‹, sagte er, ›doch das gilt in diesem
     Land nur für die Bestien. Kein Mensch hier – begreifen Sie? – kein Mensch ist gefeit.‹ Er blieb noch einen Moment im Mondlicht
     stehen, die schmale Hakennase leicht zur Seite geneigt, die Katzengoldaugen glitzerten ohne zu blinzeln, dann wünschte er
     mir schroff eine gute Nacht und schritt davon. Ich sah, daß er beunruhigt und beträchtlich verwirrt war, was mich

Weitere Kostenlose Bücher