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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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verfluchte Erbschaft in Besitz zu nehmen, die wir uns um den Preis
     höchster Qualen und abgrundtiefer Mühen aneignen würden. Doch dann auf einmal, wenn wir uns um eine Biegung gekämpft hatten,
     erhaschten wir einen Blick auf Binsenwände, spitze Grasdächer, Geschrei, ein Wirbeln schwarzer Glieder, ein Gewimmel klatschender
     Hände, stampfender Füße, sich wiegender Körper, rollender Augen unter der Traufe des schweren, reglosen Laubwerks. Langsam
     schob sich der Dampfer vorbei am Rand einer schwarzen, unbegreiflichen Tollheit. Der prähistorische Mensch verfluchte uns,
     betete uns an, hieß uns willkommen – wer wußte das schon? Wir waren vom Begreifen unserer Umwelt abgeschnitten; wir glitten
     vorbei wie Geister, erstaunt und insgeheim entsetzt, |61| wie es gesunde Menschen angesichts eines ekstatischen Ausbruchs im Irrenhaus wären. Wir konnten nichts verstehen, denn wir
     waren zu weit weg, und wir konnten uns nicht erinnern, denn wir reisten durch die Nacht der frühesten Zeiten, jener Zeiten,
     die längst vergangen sind und kaum ein Zeichen hinterlassen haben – und keine Erinnerungen.
    Die Erde wirkte unirdisch. Wir sind es gewohnt, auf die gefesselte Gestalt eines bezwungenen Ungeheuers hinabzusehen, aber
     dort – dort erblickte man etwas, das ungeheuerlich war und frei. Es war unirdisch und die Menschen waren   ... Nein, unmenschlich waren sie nicht. Das war das Schlimmste daran, wißt ihr – der Verdacht, daß sie nicht unmenschlich
     waren. Die Ahnung kam einem ganz allmählich. Sie heulten und sprangen und drehten sich und schnitten schreckliche Fratzen;
     doch was einen packte, das war exakt der Gedanke an ihre Menschlichkeit – wie deine eigene – der Gedanke an deine entfernte
     Verwandtschaft mit dieser wilden, leidenschaftlichen Raserei. Häßlich. Ja, es war häßlich, aber wenn du Manns genug warst,
     mußtest du zugeben, zumindest den kleinsten Hauch einer Antwort auf die schreckliche Direktheit dieses Lärms in dir zu entdecken,
     den leisen Verdacht, daß sich darin eine Bedeutung verbarg, die du – so weit du auch von der Nacht der frühesten Zeiten entfernt
     warst – begreifen konntest. Und warum nicht? Der Geist des Menschen ist zu allem fähig – denn in ihm steckt alles, alle Vergangenheit
     und alle Zukunft. Was war dort letztlich? Freude, Angst, Schmerz, Verehrung, Mut, Zorn – wer weiß? – hier war Wahrheit – nackte
     Wahrheit ohne den Mantel der Zeit. Laß den Narren gaffen und schaudern – der Mann versteht und sieht, ohne zu blinzeln, hin.
     Doch er muß mindestens so sehr Mann sein wie die am Ufer. Der Wahrheit dort muß er mit seiner eigenen Wahrheit begegnen –
     mit seiner natürlichen inneren Stärke. Prinzipien? Prinzipien taugen nichts. Errungenschaften, Kleider |62| , schöne Flicken   – Flicken, die beim ersten kräftigen Schütteln davonfliegen. Nein. Hier muß bewußter Glaube her. Ein Reiz, den das teuflische
     Spektakel für mich hat – ob es den gab? Nun denn, ich höre, zugegeben, aber ich habe auch eine Stimme, und, sei’s zum Guten
     oder zum Bösen, meine Stimme läßt sich nicht zum Schweigen bringen. Der Narr natürlich, ob von blanker Angst erfüllt oder
     von hehren Gefühlen, ist immer auf der sicheren Seite. Wer brummt da? Du willst wissen, ob ich ans Ufer ging, um mitzuheulen
     und mitzutanzen? Nein – ich tat es nicht. Hehre Gefühle, sagst du? Zum Teufel mit hehren Gefühlen! Für so was hatte ich keine
     Zeit. Ich mußte mit Bleiweiß und Tuchstreifen hantieren, womit ich half, die lecken Dampfrohre zu verbinden – soviel dazu.
     Ich mußte die Steuerung beaufsichtigen und Baumstämme umfahren und den Blecheimer irgendwie den Fluß hinaufkriegen. Darin
     lag genug Oberflächenwahrheit, um einen weiseren Mann als mich zu retten. Und zwischendurch mußte ich noch nach dem Wilden
     sehen, der unser Heizer war. Er war ein durch Wissen veredeltes Exemplar, konnte einen senkrechten Dampfkessel beheizen. Dort
     stand er unter mir, und, mein Wort drauf, ihn zu betrachten war so erbauend wie einem dressierten Hund in Kniebundhosen und
     Federhut zuzusehen, der auf den Hinterbeinen läuft. Ein paar Monate Schulung hatten diesen wirklich guten Burschen erledigt.
     Wie er den Dampfmesser und den Wassermesser mit sichtlich bemühter Unerschrockenheit anschielte – und spitz gefeilte Zähne
     hatte er auch, der arme Teufel, die Wolle auf seinem Schädel zu bizarren Mustern geschoren und auf jeder Wange drei Narben
     zur Zierde. Er

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