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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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Wirklichkeit – die Wirklichkeit, sage ich – zu verblassen. Die
     innere Wahrheit bleibt verborgen – zum Glück, zum Glück. Aber ich spürte sie trotzdem; spürte oft die geheimnisvolle Stille,
     die mich beobachtete, während ich meine närrischen Kunststücke aufführte, genauso, wie sie euch beobachtet, wenn ihr auf euren
     jeweiligen Drahtseilen tanzt – für wieviel? Eine halbe Krone pro Salto   ...«
    »Bleib höflich, Marlow«, knurrte eine Stimme, und ich wußte, daß es mindestens noch einen anderen Zuhörer außer mir gab.
    »Entschuldigt bitte. Ich habe den Herzschmerz vergessen, der den Preis voll macht. Außerdem, welche Rolle spielt der Preis,
     wenn das Kunststück gut ist? Und ihr macht sie sehr gut, eure Kunststücke. Und auch ich war nicht schlecht, denn immerhin
     schaffte ich es, den Dampfer nicht gleich bei der ersten Fahrt zu versenken. Noch heute halte ich es für ein Wunder. Denkt
     euch einen Mann, der mit verbundenen Augen einen Lastwagen auf einer schlechten Straße fahren muß. Ich schwitzte und zitterte
     nicht schlecht bei dem Unternehmen, das sage ich euch. Schließlich ist es für einen Seemann die eine unverzeihliche Sünde,
     den Boden des Potts, der unter seiner |59| Obhut oben schwimmen soll, anzukratzen. Vielleicht kennt es hier keiner, aber es ist ein Ruck, den man nie vergißt – eh? Wie
     ein Stich direkt ins Herz. Man kann ihn nicht vergessen, träumt davon, wacht nachts auf und denkt daran – noch Jahre später
     – und es wird einem heiß und kalt am ganzen Körper. Ich will nicht behaupten, das Dampfschiff sei die ganze Zeit frei geschwommen.
     Mehr als einmal mußte der Pott waten, mit zwanzig Kannibalen, die planschend schoben. Wir hatten unterwegs ein paar dieser
     Burschen angeheuert. Feine Kerle   – Kannibalen – wenn sie zu Hause waren. Es waren Männer, mit denen man arbeiten konnte, und ich bin ihnen dankbar. Außerdem
     fraßen sie einander nicht vor meinen Augen auf: sie hatten einen Vorrat Flußpferdefleisch mitgebracht, das verfaulte und mir
     dabei die Geheimnisse der Wildnis stinkend in die Nase trieb. Puh! Ich kann’s jetzt noch riechen. Ich hatte den Manager an
     Bord und drei oder vier Pilger samt Stäben – voll ausgerüstet. Manchmal passierten wir eine Station in Ufernähe, die am Saum
     des Unbekannten klebte; die weißen Männer, die aus baufälligen Hütten herausgerannt kamen und uns mit wilden Gesten der Freude
     und Überraschung willkommen hießen, machten einen sehr merkwürdigen Eindruck, ja, sie wirkten, als würden sie durch einen
     Fluch dort gefangengehalten. Das Wort ›Elfenbein‹ hing eine Zeitlang in der Luft – und dann fuhren wir weiter in das Schweigen,
     die leeren Flußstrecken hinauf, um stille Biegungen, zwischen den steilen Wänden unseres gewundenen Wegs, die das schwerfällige
     Klatschen des Schaufelrads als dumpfe Schläge zurückwarfen. Bäume, Bäume, Millionen von Bäumen, schwer, riesig, hoch emporragend,
     und zu ihren Füßen, die das Ufer gegen den Strom umklammert hielten, kroch der kleine verrußte Dampfer dahin wie ein plumper
     Käfer über den Boden eines erhabenen Säulengangs. Man fühlte sich sehr klein, sehr verloren, und doch war es nicht gänzlich
     bedrückend |60| , dieses Gefühl. Denn solange man klein war, würde der rußige Käfer weiterkriechen – und genau das wollte man ja. Was die
     Pilger meinten, wohin er kröche, weiß ich nicht. Irgendeinen Ort, von dem sie sich etwas erhofften, wette ich! Für mich kroch
     er zu Kurtz – ausschließlich; doch als die Dampfrohre zu lecken begannen, krochen wir nur noch sehr langsam. Der Fluß öffnete
     sich vor uns und schloß sich hinter uns, als würde der Wald gemächlich über das Wasser schreiten, um uns den Rückweg zu versperren.
     Wir drangen tiefer und tiefer ein in das Herz der Finsternis. Es war sehr still. Zuweilen erklangen nachts Trommeln hinter
     dem Baumvorhang, dröhnten den Fluß hinauf und blieben, bis die Dämmerung anbrach, zu hören, als schwebten sie hoch über unseren
     Köpfen in der Luft. Ob sie Krieg, Frieden oder Andacht verhießen, wußten wir nicht. Der Morgen kündigte sich mit kühler Stille
     an, die sich über alles legte. Die Holzhacker schliefen, ihre Feuer brannten niedrig, schon das Knacken eines Zweigs erschreckte
     einen. Wir waren Wanderer auf einer prähistorischen Erde, einer Erde, die aussah wie ein unbekannter Planet. Wir hätten uns
     für die ersten Menschen halten können, im Begriff eine

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