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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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mit unvollständigen Sätzen, mit Anspielungen, die in tiefen Seufzern endeten. Der Wald war unbeweglich wie eine Maske – schwer
     wie das geschlossene Tor eines Gefängnisses – und sah uns an mit seiner Aura von verborgenem Wissen, geduldiger Erwartung,
     unnahbarer Stille. Der Russe erklärte gerade, daß Mr.   Kurtz erst vor kurzem zum Fluß heruntergekommen war und alle Kämpfer des Stamms vom See mitgebracht hatte. Er war mehrere
     Monate fort gewesen – hatte sich anbeten lassen, vermute ich – und kam unerwartet her, allem Anschein nach plante er einen
     Raubzug auf der anderen Flußseite oder flußabwärts. Die Gier nach Elfenbein hatte offensichtlich seine – wie soll ich sagen
     – seine weniger materiellen Ziele besiegt. Jedenfalls ging es ihm plötzlich viel schlechter. ›Als ich hörte, daß er hilflos
     darniederliegt, bin ich hergekommen – auf gut Glück‹, sagte der Russe. ›Ach, es steht schlimm um ihn, sehr schlimm.‹ Ich richtete
     das Fernglas auf das Haus. Kein Zeichen von Leben, doch dort war das eingefallene Dach, die lange Lehmmauer, kaum höher als
     das Gras, mit drei kleinen quadratischen Fensterlöchern, alle von unterschiedlicher Größe; alles schien plötzlich in meiner
     Reichweite zu sein. Und dann schwenkte ich abrupt das Fernglas, und einer der Pfähle des verschwundenen Zauns sprang mir ins
     Auge. Ihr erinnert euch, wie ich sagte, daß mir aus der Ferne eine Art Verzierung aufgefallen war, die nicht recht zur Trostlosigkeit
     des ganzen Ortes paßte. Jetzt sah ich den Pfahl plötzlich ganz nah, und meine erste Reaktion war zurückzuzucken, als hätte
     ich einen Schlag auf den Kopf bekommen. Anschließend untersuchte ich einen Pfahl nach dem anderen gründlich durch das Fernglas
     und erkannte meinen Fehler. Die runden Dinger waren kein Schmuck, sondern Symbole; sie waren ausdrucksstark und rätselhaft,
     eindrucksvoll und verstörend – Nahrung für die Gedanken, aber auch für die Geier, hätte es welche am Himmel gegeben; vor allem
     jedoch für die Ameisen, die fleißig |98| genug waren, den Pfahl zu erklimmen. Sie wären sogar noch beeindruckender gewesen, die Köpfe dort auf den Pfählen, hätten
     ihre Gesichter nicht zum Haus gezeigt. Nur einer, der erste, den ich gesehen hatte, starrte mich an. Ich war nicht so entsetzt,
     wie ihr vielleicht denkt. Zusammengezuckt war ich mehr aus Überraschung. Ich hatte eine Holzkugel erwartet, versteht ihr.
     Jetzt wandte ich mich mit Bedacht wieder dem zu, den ich zuerst gesehen hatte – und dort steckte er, schwarz, vertrocknet,
     eingefallen, mit geschlossenen Lidern – ein Kopf, der auf der Spitze des Pfahls zu schlafen schien und der mit seinen geschrumpften,
     verdorrten Lippen und einer schmalen Reihe weißer Zähne lächelte, fortwährend lächelte im endlosen lustigen Traum seines ewigen
     Schlummers.
    Ich plaudere keine Handelsgeheimnisse aus. Tatsächlich sagte der Manager später, daß Kurtz’ Methoden den Distrikt zugrunde
     gerichtet hätten. Ich habe keine Meinung dazu, doch ihr müßt klar verstehen, daß es für die Anwesenheit der Köpfe letztlich
     keine wirtschaftlichen Gründe gab. Sie zeigten schlicht, daß es Mr.   Kurtz an Selbstbeherrschung fehlte, wenn es um die Erfüllung seiner verschiedenen Lüste ging, daß ihm da etwas mangelte –
     irgendeine Kleinigkeit, die, wenn sich das dringende Bedürfnis regte, nicht unter seiner großartigen Eloquenz zu finden war.
     Ob er sich dieses Mangels bewußt war, ich weiß es nicht. Ich glaube, die Erkenntnis dämmerte ihm am Ende – doch erst ganz
     am Ende. Die Wildnis dagegen hatte ihn früh durchschaut und hatte sich fürchterlich an ihm für die phantastische Invasion
     gerächt. Ich glaube, die Wildnis flüsterte ihm Dinge über ihn zu, die er selbst nicht wußte, Dinge, von denen er keine Vorstellung
     hatte, bis er den Rat der großen Einsamkeit erhörte – und dieses Flüstern erwies sich als unwiderstehlich faszinierend. Laut
     hallte es in ihm wider, denn er war im Innern hohl   ... Ich ließ das Fernglas sinken, und der Kopf, der eben noch so nah gewirkt hatte, als hätte ich |99| mit ihm sprechen können, sprang sofort in unerreichbare Ferne zurück.
    Mr.   Kurtz’ Bewunderer war ein wenig niedergeschlagen. Mit rascher, undeutlicher Stimme begann er mir zu versichern, daß er nicht
     gewagt hatte, diese – sagen wir, Symbole – herunterzunehmen. Er fürchtete sich nicht vor den Eingeborenen; sie rührten sich
     nicht, bis Mr.  

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