Herz der Finsternis
mich küssen, doch dann hielt er sich zurück. ›Das einzige Buch, das
mir geblieben war, und ich dachte, ich hätte es verloren‹, sagte er und betrachtete es überglücklich. ›Wenn ein Mann allein
unterwegs ist, passieren so viele Unfälle, wissen Sie. Kanus kentern, und manchmal muß man sich schnell aus dem Staub machen,
wenn die Leute zornig werden.‹ Er blätterte durch |92| die Seiten. ›Sie haben sich auf russisch Notizen gemacht?‹ fragte ich. Er nickte. ›Und ich dachte erst, sie wären chiffriert‹,
sagte ich. Darauf lachte er, dann wurde er ernst. ›Ich hatte eine Menge Schwierigkeiten, diese Leute abzuwehren.‹ ›Wollten
sie Ihnen ans Leben?‹ fragte ich. ›Oh, nein!‹ rief er aus, dann beherrschte er sich. ›Warum haben sie uns angegriffen?‹ hakte
ich nach. Er zögerte, dann sagte er verschämt: ›Sie wollen nicht, daß er geht.‹ ›Sie wollen nicht?‹ fragte ich neugierig.
Er nickte geheimnisvoll, wissend. ›Ich sage Ihnen‹, rief er, ›dieser Mann hat meinen Horizont erweitert.‹ Dabei öffnete er
die Arme weit und blickte mich durchdringend mit seinen kleinen blauen Augen an, die vollkommen rund waren.«
|93| III
»Völlig verwundert sah ich ihn an. Dort stand er vor mir im Narrenkleid, als wäre er einer Komödiantentruppe entlaufen, euphorisch,
fabelhaft. Sein ganzes Dasein war unwahrscheinlich, unerklärlich und gänzlich verwirrend. Er war ein unlösbares Rätsel. Es
war unvorstellbar, wie er gelebt hatte, wie es ihm gelungen war, so weit zu kommen, wie er geschafft hatte zu überleben –
weshalb er nicht sofort vom Erdboden verschwunden war. ›Ich ging ein Stück‹, erklärte er, ›dann noch ein Stück – immer weiter,
bis ich so weit war, daß ich keine Ahnung hatte, wie ich je zurückkäme. Macht nichts. Zeit genug! Ich schaffe es schon. Bloß
bringen Sie Kurtz schnell weg – schnell – hören Sie auf mich.‹ Der Glanz der Jugend umhüllte seine bunten Lumpen, sein Elend,
seine Einsamkeit, die fundamentale Trostlosigkeit seiner vergeblichen Wanderungen. Monatelang – jahrelang – war sein Leben
keinen Heller wert gewesen; und hier war er, wacker, gedankenlos am Leben, allem Anschein nach unzerstörbar allein durch seine
Jugend und seinen unbesonnenen Wagemut. Ich neigte zu so etwas wie Bewunderung – wie Neid. Dieser Glanz trieb ihn weiter,
dieser Glanz beschützte ihn. Er wollte nichts von der Wildnis, da war ich sicher, als einen Raum zum Atmen und zum Vorwärtsdringen.
Seine Bedürfnisse bestanden darin, zu sein und weiterzuziehen, unter größtmöglichem Risiko und äußerster Entbehrung. Wenn
je ein Mensch von vollkommen reinem, nicht rechnendem, ziellosem Abenteuergeist beherrscht wurde, dann dieser flickenbesetzte
junge Mann. Fast beneidete ich ihn um den Besitz dieser bescheidenen, hellen |94| Flamme. Sie schien jeden selbstsüchtigen Gedanken so nachhaltig verzehrt zu haben, daß man, sogar während man mit ihm sprach,
vergaß, daß er es war – der Mann hier vor einem –, der all das mitgemacht hatte. Ich beneidete ihn jedoch nicht um seine Hingabe an Kurtz. Er hatte nicht darüber nachgedacht.
Sie hatte sich seiner bemächtigt, und er akzeptierte sie mit einer Art eifrigem Fatalismus. Ich muß sagen, das schien mir
in jeder Hinsicht das Gefährlichste zu sein, was ihm bisher begegnet war.
Die beiden waren unaufhaltsam aufeinander zu getrieben wie zwei Schiffe, die gemeinsam in eine Flaute geraten und schließlich
Rumpf an Rumpf beieinanderliegen. Ich vermute, Kurtz wollte einen Zuhörer, denn einmal, als sie im Wald kampierten, hatten
sie die ganze Nacht geredet, oder, wahrscheinlicher, Kurtz hatte geredet. ›Wir redeten über alles‹, sagte er, ganz entrückt
bei der Erinnerung. ›Ich vergaß, daß es überhaupt so etwas wie Schlaf gab. Die Nacht schien keine Stunde zu dauern. Über alles!
Über alles! ... Auch über die Liebe.‹ ›Oh, er hat also mit Ihnen über die Liebe geredet!‹ sagte ich belustigt. ›Nicht was Sie denken‹,
rief er, fast aufbrausend. ›Es ging ums Allgemeine. Er brachte mich dazu, Dinge zu sehen – Dinge.‹
Er warf die Arme in die Luft. Wir befanden uns auf dem Deck, und der Häuptling meiner Holzhacker, der in der Nähe hockte,
blickte ihn mit schweren, funkelnden Augen an. Ich sah mich um, und ich weiß nicht warum, doch ich versichere euch, niemals,
niemals zuvor waren mir dieses Land, dieser Fluß, dieser Dschungel, ja, selbst dieses
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