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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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Kurtz Befehl dazu gab. Seine Vormachtstellung war ungeheuerlich. Rundum schlugen sie ihre Lager auf, und jeden Tag kamen die
     Häuptlinge, um ihn zu sehen. Auf allen vieren krochen sie heran   ... ›Ich will nichts davon wissen, mit welchen Zeremonien sie sich Mr.   Kurtz nähern‹, rief ich dazwischen. Merkwürdig, das Gefühl, das mich überkam, solche Einzelheiten könnten noch unerträglicher
     sein als die Köpfe, die an den Pfählen unter Mr.   Kurtz’ Fenster trockneten. Das eine war schließlich nur ein barbarischer Anblick, während ich nun Hals über Kopf in eine lichtlose
     Region boshaften Grauens eingetaucht zu werden drohte, wo eine solch klare, unkomplizierte Barbarei eine wahre Wohltat war,
     etwas, das mit vollem Recht – ganz offen – im Sonnenschein existieren durfte. Der junge Mann sah mich überrascht an. Wahrscheinlich
     war es ihm nicht in den Sinn gekommen, daß Mr.   Kurtz kein Idol von mir war. Er vergaß, daß ich noch keinen der glänzenden Monologe gehört hatte über, was war es noch? über
     Liebe, Gerechtigkeit, Lebensführung – und was nicht alles. Wenn es darum ging, auf allen Vieren zu Kurtz zu kriechen, so kroch
     er besser als der Wildeste unter den Wilden. Ich hätte keine Ahnung von den Umständen, sagte er: die Köpfe seien die Köpfe
     von Rebellen. Als ich lachte, war er zutiefst erschüttert. Rebellen! Was würde die nächste Definition sein, die ich zu hören
     bekäme. Feinde, Verbrecher, Arbeiter – und diese hier waren Rebellen. Auf mich wirkten die rebellischen Köpfe auf ihren Stöcken
     ziemlich unterwürfig. ›Sie wissen ja nicht, wie sehr so ein Leben einen |100| Mann wie Kurtz mitnimmt‹, schrie Kurtz’ letzter Jünger. ›Und Sie?‹ fragte ich zurück. ›Ich! Ich! Ich bin ein einfacher Mann.
     Ich habe keine großen Gedanken. Ich will von keinem etwas. Wie können Sie mich vergleichen mit   ...?‹ Seine Gefühle waren zuviel für seine Worte, und plötzlich brach er zusammen. ›Ich verstehe es nicht‹, stöhnte er. ›Ich
     habe mein Bestes getan, ihn am Leben zu halten, und das ist genug. Ich habe mit alledem nichts zu tun. Ich habe keine Fähigkeiten.
     Seit Monaten hat es hier keinen Tropfen Medizin, keinen Löffel Krankenkost gegeben. Man hat ihn schändlich alleingelassen.
     Einen Mann wie ihn, mit seinen Ideen. Schändlich! Schändlich! Ich – ich – habe die letzten zehn Nächte nicht geschlafen   ... ‹
    Seine Stimme verlor sich in der Abendstille. Die langen Schatten des Urwalds waren den Hügel herabgeglitten, während wir sprachen,
     weit über die verfallene Hütte, die Reihe der symbolischen Pfähle hinaus. All das lag im Dunkeln, während wir hier unten noch
     im Sonnenschein standen, und auf Höhe der Lichtung glitzerte der Fluß in stiller, strahlender Pracht zwischen den trüben,
     umschatteten Biegungen oben und unten. Keine Menschenseele war am Ufer zu sehen. In den Büschen raschelte es nicht.
    Plötzlich tauchte an der Ecke des Hauses wie aus dem Boden gewachsen eine Gruppe von Männern auf. Geschlossen wateten sie
     durch das hüfthohe Gras, eine behelfsmäßige Trage in ihrer Mitte. Im gleichen Augenblick erhob sich ein Schrei in der Leere
     der Landschaft; das Gellen durchbohrte die stille Luft wie ein scharfer Pfeil, der direkt ins Herz des Landes flog. Und wie
     durch einen Zauber ergossen sich aus dem dunkelgesichtigen, brütenden Urwald Ströme von Menschen auf die Lichtung – nackte
     Menschen – mit Speeren, Bögen, Schilden in Händen, mit barbarischen Blicken und wilden Bewegungen. Der Busch erzitterte, das
     Gras wogte einen Augenblick, und dann erstarrte alles in erwartungsvoller Reglosigkeit.
    |101| ›Wenn er jetzt nicht das Richtige sagt, sind wir alle verloren‹, sagte der Russe an meiner Seite. Der Trupp mit der Trage
     hatte nun auch haltgemacht, auf halben Weg zum Dampfer, wie versteinert. Ich sah, wie der Mann auf der Trage sich aufsetzte,
     er war hager und hatte über den Schultern der Träger einen Arm erhoben. ›Hoffen wir, daß der Mann, der so gut über die Liebe
     im allgemeinen spricht, im besonderen einen Grund findet, uns für diesmal zu schonen‹, sagte ich. Die aberwitzige Gefahr der
     Situation stieß mir bitter auf, als wäre der Umstand, der Gnade dieses grausamen Gespensts ausgeliefert zu sein, eine demütigende
     Notwendigkeit. Ich konnte kein Wort verstehen, aber durch das Fernglas sah ich, wie er den Mund bewegte und gebieterisch den
     dünnen Arm ausstreckte, wie die Augen

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