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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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der Erscheinung dunkel, tief aus dem knochigen Schädel strahlten, der mit grotesk ruckartigen
     Bewegungen nickte. Kurtz   – Kurtz – das bedeutet ›kurz‹ im Deutschen – oder nicht? Nun, der Name war in etwa so stimmig wie alles andere in seinem Leben
     – und seinem Tod. Er wirkte, als wäre er mindestens zwei Meter groß. Seine Decke war heruntergerutscht und enthüllte einen
     Körper, der so bedauernswert und erschreckend aussah wie der unter einem Leichentuch. Ich konnte erkennen, wie sich der Brustkasten
     hob und senkte, wie die Knochen seines Arms winkten. Es war, als würde das wandelnde Abbild des Todes, aus altem Elfenbein
     geschnitzt, gegen eine reglose Menge von Männern aus dunkelglänzender Bronze drohend den Arm schütteln. Ich sah, wie er den
     Mund weit öffnete – was ihm einen merkwürdig gefräßigen Ausdruck verlieh, als wollte er alles, die Luft, die Erde, die Männer,
     alles vor ihm verschlingen. Eine tiefe Stimme drang schwach herüber. Er muß geschrien haben. Plötzlich fiel er zurück. Die
     Trage schaukelte, als der Trupp weiterwankte, und beinahe im gleichen Moment bemerkte ich, daß die Menge der Wilden ohne eine
     merkliche Rückzugsbewegung |102| verschwunden war, als hätte der Urwald, der diese Wesen so plötzlich ausgespuckt hatte, sie wieder eingesogen in einem langen
     Atemzug.
    Ein paar der Pilger hinter der Trage schleppten seine Waffen – zwei Schrotflinten, eine schwere Büchse und einen leichten
     Vorderlader – die Donnerkeile dieses unglücklichen Jupiter. Der Manager beugte sich über ihn und sprach mit ihm, während er
     auf Kopfhöhe neben herlief. Sie legten ihn in eine der beiden kleinen Kabinen – nur ein Raum mit einer Bettstatt und ein oder
     zwei Klappstühlen, wie ihr wißt. Wir hatten ihm seine überfällige Post mitgebracht, zerrissene Kuverts und offene Briefe waren
     über sein Bett verstreut. Er ließ eine schwache Hand über die Papiere wandern. Ich war beeindruckt von der Glut seiner Augen
     und der gefaßten Kraftlosigkeit seines Ausdrucks. Es war weniger die Erschöpfung der Krankheit. Schmerzen schien er nicht
     zu haben. Der Schatten vor mir wirkte satt und ruhig, als hätte er für den Moment genug der Emotionen.
    Er raschelte mit einem der Briefe, sah mir direkt ins Gesicht und sagte: ›Ich freue mich.‹ Jemand hatte ihm von mir geschrieben.
     Schon wieder eine dieser besonderen Empfehlungen. Der volle Klang seiner Stimme, den er ohne Anstrengung, fast ohne die Lippen
     zu bewegen, erzeugte, erstaunte mich. Eine Stimme! Eine Stimme! Sie war ernst, tief, sonor, während der Mann aussah, als könnte
     er nicht einmal ein Flüstern hervorbringen. Und doch steckte in ihm noch die – zweifellos künstliche – Kraft, um mit uns beinahe
     Schluß zu machen, wie ihr gleich hört.
    Der Manager erschien schweigend in der Tür; ich ließ die beiden sofort allein, er zog den Vorhang hinter mir zu. Der Russe,
     von den Pilgern neugierig beobachtet, sah zum Ufer. Ich folgte seinem Blick.
    In der Entfernung waren dunkle Gestalten zu erkennen, |103| undeutlich huschten sie vor dem düsteren Waldrand auf und ab, und in der Nähe des Flusses standen zwei bronzefarbene Männer
     mit phantastischem Kopfputz aus gefleckten Fellen auf ihre mächtigen Speere gestützt im Sonnenlicht, kriegerisch und reglos
     in statuenhafter Pose. Und dann kam von rechts am beleuchteten Ufer entlang die wilde und prächtige Erscheinung einer Frau.
    Sie schritt gemessen dahin, gehüllt in gestreifte und fransige Stoffe, setzte stolz die Füße auf mit leisem Klingeln und Funkeln
     ihres barbarischen Schmucks. Sie trug den Kopf erhoben, das Haar war zur Form eines Helms frisiert, bronzene Beinschienen
     reichten ihr bis zu den Knien, Manschetten aus Bronzedraht bis zu den Ellbogen, die kupferbraune Wange zierte ein dunkelroter
     Punkt und um den Hals hingen zahllose Ketten aus Glasperlen, dazu bizarre Gegenstände, Talismane, Geschenke von Medizinmännern,
     die bei jedem Schritt an ihrem Körper blinkten und baumelten. Wahrscheinlich trug sie an ihrem Körper den Gegenwert von mehreren
     Elefantenstoßzähnen. Sie war barbarisch und großartig, wild und wunderbar; in ihrem bedächtigen Schreiten lag etwas Majestätisches
     und etwas Unheilvolles. Und in der Stille, die sich plötzlich über das ganze gramvolle Land gelegt hatte, schien die unendliche
     Wildnis, die gigantische Masse fruchtbaren, geheimnisvollen Lebens, auf sie zu blicken, nachdenklich, wie auf das

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