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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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Hosentaschen (leuchtend rot) war mit den Patronen ausgebeult, aus
     der anderen (dunkelblau) sah eine Ecke von ›Towsons Untersuchung‹ hervor etc. etc. Anscheinend fühlte er sich für eine neuerliche
     Begegnung mit der Wildnis außerordentlich gut gerüstet. ›Ah! Nie, nie wieder werde ich einem solchen Mann begegnen. Sie hätten
     ihn hören sollen, wenn er seine Gedichte vortrug – noch dazu seine eigenen‹, sagte er mir. ›Poesie!‹ Er rollte mit den Augen
     bei der Erinnerung an diesen Hochgenuß. ›Oh. Er hat meinen Horizont erweitert!‹ ›Leben Sie wohl‹, sagte ich. Er schüttelte
     mir die Hand und verschwand in die Nacht. Manchmal frage ich mich, ob ich ihn je wirklich gesehen habe – ob es möglich war,
     einem solchen Phänomen zu begegnen!   ...
    Als ich kurz nach Mitternacht aufwachte, fiel mir seine Warnung ein, und die Gefahr, auf die er anspielte, schien in der sternenbedeckten
     Finsternis so wirklich, daß ich aufstand, um mich umzusehen. Auf dem Hügel brannte ein großes Feuer und erleuchtete flackernd
     eine Seite des schiefen Stationsgebäudes. Einer der Agenten bewachte das Elfenbein mit einem kleinen Trupp unserer Schwarzen,
     die für diesen Zweck Waffen trugen; doch tief im Urwald glommen zuckende rote Lichter, hoben und senkten sich zwischen verschlungenen
     Säulenformen von undurchdringlicher Schwärze und zeigten die genaue Position des Lagers an, wo Mr.   Kurtz’ Verehrer ihre beunruhigende Wache hielten. Das monotone Schlagen einer großen Trommel erfüllte die Luft mit gedämpften
     Stößen und nachhaltigem Dröhnen. Der eintönige Singsang unheimlicher Beschwörungsformeln, von vielen Mündern vor sich |109| hin gemurmelt, drang aus der schwarzen glatten Wand des Waldes wie das Summen von Bienen aus einem Bienenstock und hatte eine
     seltsam einschläfernde Wirkung auf meine halbwachen Sinne. Ich glaube, ich nickte ein, als ich an der Reling lehnte, bis ein
     abruptes Geschrei, der heftige Ausbruch einer angestauten, geheimnisvollen Raserei mich weckte und in verblüfftes Staunen
     versetzte. Plötzlich brach der Lärm ab, und das dumpfe Dröhnen hing weiter in der Luft, beruhigend wie hörbar gewordene Stille.
     Beiläufig warf ich einen Blick in die kleine Kabine. Eine Lampe brannte, doch Mr.   Kurtz war nicht da.
    Ich glaube, ich hätte laut geschrieen, wenn ich meinen Augen getraut hätte. Doch zunächst traute ich meinen Augen nicht –
     so unmöglich schien das Ganze. Tatsache ist, ich war vollkommen zermürbt von schierer, blanker Angst, von reinem, abstraktem
     Entsetzen, losgelöst von jeglicher greifbaren Form einer physischen Gefahr. Was dieses Gefühl so übermächtig machte, war –
     wie soll ich es beschreiben? – der moralische Schock, den ich erlitt, als hätte sich mir aus heiterem Himmel etwas vollkommen
     Ungeheuerliches, dem Verstand Unerträgliches und der Seele zutiefst Verhaßtes in den Weg gestellt. Der Eindruck währte natürlich
     nur den Bruchteil einer Sekunde, und das vertraute Gefühl von gewöhnlicher Todesgefahr, das dann einsetzte – die Möglichkeit
     eines jähen Angriffs oder Massakers oder ähnlichem, mit der ich rechnete   –, war mir ehrlich willkommen und tröstlich. Es beruhigte mich, so sehr sogar, daß ich nicht einmal Alarm schlug.
    Auf dem Deck, drei Fuß von mir, saß ein Agent in seinen Ulster eingeknöpft auf einem Stuhl und schlief. Die Schreie hatten
     ihn nicht geweckt; er schnarchte leise. Ich überließ ihn seinen Träumen und sprang an Land. Ich verriet Mr.   Kurtz nicht – es war mir bestimmt, daß ich ihn nie verraten sollte – es stand geschrieben, daß ich dem Alptraum meiner Wahl
     treu |110| zu bleiben hatte. Ich war selbst darauf aus, ganz allein mit diesem Schatten zurechtzukommen – bis heute weiß ich nicht, warum
     ich mich so eifersüchtig dagegen sträubte, die besondere Schwärze dieser Erfahrung mit irgend jemandem zu teilen.
    Als ich das Ufer erreichte, sah ich einen Pfad – einen breiten Pfad durch das Gras. Ich erinnere mich noch an mein Jubelgefühl,
     als ich dachte: ›Er kann nicht laufen – er kriecht auf allen vieren – jetzt habe ich ihn.‹ Das Gras war feucht vom Tau. Rasch
     schritt ich voran, die Fäuste geballt. Ich schätze, ich hatte den vagen Plan, über ihn herzufallen und ihm eine Tracht Prügel
     zu verpassen. Ich weiß es nicht. Ich hatte so manchen schwachsinnigen Gedanken. Die strickende Frau mit der Katze drängte
     sich meiner Erinnerung auf als die

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