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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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abwegigste Person, die überhaupt nur am anderen Ende einer solchen Geschichte sitzen konnte.
     Ich sah einen Haufen Pilger vor mir, die mit der Winchester aus der Hüfte Blei in die Luft spritzten. Ich dachte, ich käme
     nie zum Dampfer zurück, und stellte mir vor, wie ich allein und unbewaffnet im Dschungel lebte, bis ins hohe Alter. Solche
     Albernheiten – versteht ihr. Und ich erinnere mich, daß ich das Schlagen der Trommeln mit dem Schlagen meines Herzens verwechselte
     und mich über seine Regelmäßigkeit freute.
    Jedenfalls folgte ich dem Pfad – dann hielt ich inne, um zu lauschen. Die Nacht war sehr klar, ein dunkelblauer Raum mit glitzerndem
     Tau und Sternenlicht, in dem schwarze Dinge sehr still standen. Ich meinte, eine Regung vor mir zu erkennen. Auf seltsame
     Weise erschien mir in jener Nacht alles todsicher. Ich verließ sogar den Pfad, um einen weiten Halbkreis zu beschreiben (ich
     glaube wirklich, ich lachte mir dabei ins Fäustchen) und dem Rascheln zuvorzukommen, der Regung, die ich gesehen hatte – wenn
     ich überhaupt etwas gesehen hatte. Ich kreiste Kurtz ein, als wäre das alles ein Kinderspiel.
    Ich fand ihn, und wenn er mich nicht kommen gehört hätte, |111| wäre ich auch noch über ihn gestolpert, aber er richtete sich rechtzeitig auf. Wackelig, groß, blaß erhob er sich, schemenhaft
     wie ein Dunst, den die Erde ausatmete, und schwankte leicht, undeutlich und schweigend, vor mir, während hinter meinem Rücken
     die Feuer zwischen den Bäumen loderten und aus dem Wald das Gemurmel vieler Stimmen drang. Ich hatte ihm geschickt den Weg
     abgeschnitten, doch jetzt, als ich vor ihm stand, kam ich anscheinend zur Besinnung; jetzt sah ich die Gefahr im rechten Verhältnis.
     Sie war lange nicht vorbei. Angenommen, er begann zu rufen? Selbst wenn er sich kaum auf den Beinen halten konnte, seine Stimme
     hatte noch ausgesprochen viel Kraft. ›Gehen Sie – verstecken Sie sich‹, sagte er mit dieser dunklen Stimme. Es war wirklich
     schlimm. Ich warf einen Blick zurück. Wir waren kaum dreißig Yard vom nächsten Feuer entfernt. Eine schwarze Gestalt erhob
     sich, schritt auf langen schwarzen Beinen vor den Flammen auf und ab, schwenkte lange schwarze Arme. Sie hatte Hörner auf
     dem Kopf   – Antilopenhörner, glaube ich. Irgendein Magier, ein Hexenmeister, zweifellos; teuflisch genug sah er aus. ›Wissen Sie, was
     Sie tun?‹ flüsterte ich. ›Vollkommen‹, antwortete er, indem er für dieses einzelne Wort die Stimme hob; es klang, als spräche
     er aus weiter Ferne, doch gleichzeitig so laut, als hätte er durch ein Sprachrohr gerufen. Schlägt er Krawall, sind wir verloren,
     dachte ich. Dies war offensichtlich nicht die Gelegenheit für Handgreiflichkeiten, einmal abgesehen von meiner natürlichen
     Abneigung, diesen Schatten vor mir zu schlagen – dieses ruhelose, gequälte Wesen. ›Sie werden verloren sein‹, sagte ich –
     ›gänzlich verloren.‹ Manchmal hat man eine Erleuchtung, wißt ihr. Ich sagte das Richtige, obwohl er gar nicht hoffnungsloser
     verloren sein konnte, als er in diesem Moment bereits war, als der Grundstein unserer Vertrautheit gelegt wurde – um zu dauern
     – zu dauern – bis zum Ende – und selbst darüber hinaus.
    ›Ich hatte große Pläne‹, murmelte er unschlüssig. ›Ja‹, sagte |112| ich, ›doch wenn Sie versuchen zu schreien, schlage ich Ihnen den Schädel ein mit   ... ‹ Weder Stock noch Stein waren in Reichweite. ›Dann drehe ich Ihnen den Hals um‹, berichtigte ich mich. ›Ich stand an
     der Schwelle zu großen Dingen‹, flehte er mit sehnsüchtiger Stimme in einem Ton voller Wehmut, der mir Schauer über den Rücken
     jagte. ›Aber jetzt, wegen dieses dummen Halunken   ... ‹ ›In Europa ist Ihnen der Erfolg auf jeden Fall sicher‹, versprach ich ihm fest. Ich wollte ihm nicht den Hals umdrehen
     müssen, wie ihr wahrscheinlich verstehen könnt – und es wäre auch kaum von praktischem Nutzen gewesen. Ich versuchte den Bann
     zu brechen – den mächtigen stummen Bann der Wildnis – die ihn an ihre erbarmungslose Brust zu ziehen schien, indem sie vergessene,
     brutale Instinkte weckte, ihn an ungeheuerliche, erfüllte Leidenschaften erinnerte. Das allein, davon war ich überzeugt, hatte
     ihn hinaus an den Rand des Urwalds getrieben, in den Busch, zum Glanz der Feuern, dem Pochen der Trommeln, dem Singsang unheimlicher
     Beschwörungen; das allein hatte seine gesetzlose Seele über die Grenzen zulässigen

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