Herz des Himmels (German Edition)
konnte Kaithlyn sich nur schwer konzentrieren und schaffte es nicht einmal den Bogen gerade zu halten. Ihr Pfeil flog nur knapp zwei Meter. Rose versuchte ihre Haltung zu korrigieren. Danach glaubte Kaithlyn, dass sie in ihrem Leben noch nie gerade gestanden hatte. Der dritte, schrille Pfiff erlöste sie von ihrem Elend und die Schüler zogen ab, glücklich darüber, dass der erste Schultag gut überstanden war. Der laute Geräuschschwall ebbte ab, weil alle zu erschöpft waren, um auf dem Weg zu den Wohnhäusern zu reden.
Kleine und große Wolkenfetzen trieben weiter am Himmel empor und machten der blassen Sonne platz, die langsam abstieg. Der Wind, der von den Bäumen herab fegte wurde kühler und riss die rotbraunen und welken Blätter mit. Kaithlyn spürte eine Kribbeln und Ziehen in ihren Armen und fragte sich, was ihr Körper während ihrer Geistesabwesenheit denn so anstrengendes getan hatte. Gierig sog sie die frische Luft ein und schlenderte weiter. Es kam ihr vor, als wäre sie heute schon Kilometer weit gewandert. Das Akademiegelände war so groß. Die Uhr des Glockenturms schlug gerade zwei Uhr, obwohl es Kaithlyn viel später vorkam. Der laute Gong pulsierte in ihren Ohren.
Sie und Rose schafften es die anderen abzuhängen, was nicht besonders schwer war, da Irina und Jessey in ein Gespräch vertieft waren und nicht mehr auf die Schüler um sie herum achteten. Sie rannten einen Flur entlang, um ihren Vorsprung zu vergrößern. Rose führte sie viele Treppen hinauf und nach der letzten sich windenden Steintreppe standen sie schließlich weit oben auf einem flachen Dach. Ein hohes Gitter umzäumte die Mauern, damit keine Absturzgefahr bestand und in der linken Ecke wuchsen ein paar Pflanzen und ein einzelner Baum. Der Boden war abgetreten, genauso wie die Stufen, die her geführt hatten. Moos wuchs in allen Ritzen wie ein dunkler, grüner und grauer Teppich. Der Wind hier oben ging stärker.
„Hier steht ein Baum?“, fragte Kaithlyn über den seltsamen Anblick verwundert.
„Eigentlich ist es verboten hier hoch zu kommen, aber so gut wie niemand kennt den Weg herauf. Die Tür ist nie abgeschlossen. Ruz hat mir dieses Geheimnis in meinem ersten Jahr verraten. Der Baum wächst hier wohl schon seit Ewigkeiten. Ich denke, alte Schüler haben ihn als Windschutz gepflanzt. Glaub mir, hier findet uns niemand, aber verrate es nicht all zu vielen Leuten, okay?“, sagte Rose und zwinkerte.
„Na klar doch!“
Sie setzten sich und Kaithlyns Haar verfing sich an der rauen Rinde, doch es störte sie nicht weiter, irgendwie hatte der Baum eine wärmende Aura.
„Ich habe Reid gesehen. Nicht nur gesehen, er ist in meiner Klasse“, sagte sie beklommen.
„Du meinst, der Junge aus Custocorward? Der dir das Leben gerettet hat?“, fragte Rose überrascht. Sie erinnerte sich noch genau an sein Gesicht.
„Er ist hier“, antwortete Kaithlyn.
„Hast du mit ihm gesprochen? Dich bedankt und herausgefunden, was er damals dort wollte, woher er den Karacord Ring hatte?“, drängte sie aufgeregt.
„Nein“, sagte Kaithlyn knapp. „Das ist es ja gerade. Er weicht mir aus. Er ist genau dann wie vom Erdboden verschluckt, wenn ich mit ihm reden möchte.“
Rose wirkte nachdenklich. „Kennst du seinen Nachnamen?“
„Nein. Ich habe es ehrlich gesagt gar nicht mitbekommen, dass er aufgerufen wurde. Er war plötzlich da.“
„Ich würde mir keine Sorgen machen, ehe du nicht mit ihm gesprochen hast“, meinte Rose. Kaithlyn war enttäuscht. „Es gibt doch wichtigere Dinge, oder?“, setzte sie nach. „Wie läuft es mit…deiner Mitbewohnerin?“
Kaithlyn erhob sich rasch. „Ich hab ganz vergessen, dass ich nachsitzen muss.“ Sie wand Rose den Rücken zu. „Wir sehen uns beim Abendessen, okay? Dann kannst du mir alles über das Schülerratstreffen erzählen.“
„Du weißt gar nicht, wo du hin musst!“, schallte Rose´ Stimme hinter ihr her und jagte sie die Treppe hinunter. Kaithlyn wäre vor Schreck fast gestolpert, als sie am Fuß der Stufen eine dunkle Gestalt sah. Sie hielt inne und überlegte wie sie Rose warnen sollte, falls es ein Lehrer war.
Es war Shay Tao. Sein wuscheliges Haar war zerzauster vom Wind, seine dunklen, stechenden Augen fixierten Kaithlyn mit unheimlicher Wirkung. Er nestelte gerade an seiner Krawatte, während er das Jackett lässig über die Schulter warf. Eigentlich wirkte er ganz normal. Er sah so aus, als wartete er auf jemanden. Kaithlyn schluckte schwer und nahm gleich zwei
Weitere Kostenlose Bücher