Herz des Winters (German Edition)
wiederfand, der ihr vollkommen unbekannt war. Die Decke war hier viel niedriger, dafür waren leuchtende Kristalle in allen Farben so zahlreich in die Wände eingelassen, dass ein warmer, bunter Schein sie umgab.
Die Masse der Flüchtlinge war verschwunden, nur Zlaiku begegneten ihr von Zeit zu Zeit. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, aber wohin hätte sie sich wenden sollen? Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie hierher gekommen war, geschweige denn, wie sie wieder in ihr bekannte Teile des unterirdischen Labyrinths zurückkommen sollte. Davon abgesehen schien ihre Anwesenheit niemanden zu stören. Neugierde und Freundlichkeit zeichnete sich auf jedem Gesicht ab, das sie sah.
Dann erreichte sie die Grotte, und sämtliche Bedenken und Qualen wurden beiseite gefegt.
Der Baum war gigantisch. Hätte man ihr erzählt, er wäre hier vor Urzeiten gekeimt und der Berg sei um ihn herum gewachsen, sie hätte es keinen Augenblick lang bezweifelt. Obwohl er knorrig und blattlos war und seine Rinde an Härte und Beschaffenheit dem Stein ähnelte, der ihn umgab, war er eindeutig lebendig. Ein Wispern füllte die Grotte, das nirgendwo seinen Ursprung zu haben schien. Außer Daena befand sich niemand hier, kein Wind bewegte die alten Zweige, die sich in unendlichen Höhen zu verlieren schienen und eine natürliche Kuppel formten, durch die das Quarzlicht in hypnotisierenden Strahlen fiel.
Niemand musste ihr erklären, dass sie in einen heiligen Ort vorgestoßen war – und er hieß sie willkommen. Wärme durchflutete ihren Körper und ihren Geist. Sie trat so nahe an den Baumriesen heran, wie sie es wagte, und sank in das dicke Moos, das die Höhle bedeckte und den Baum gleichsam zu betten und zu fesseln schien.
Wie lange sie dort saß und dem Geräusch von Wasser lauschte, das irgendwo verborgen tröpfelte, hätte sie nicht sagen können. Es fühlte sich zugleich nach unzähligen Jahren und nur wenigen Minuten an, lag in der Realität aber wahrscheinlich nahe an einer Stunde. Alle Gedanken und Gefühle hatten sie verlassen, um nach einer Weile klar und deutlich wiederzukommen – als hätte die Grotte sie aufgenommen und danach gereinigt zurückgegeben.
Ihre Ängste und Sorgen waren noch vorhanden, doch überschattet von dem Wissen, was zu tun war, und der Entschlossenheit, die daraus resultierte. Sie erhob sich und genoss das Kribbeln, mit dem das Blut in ihre Beine zurückkehrte.
Am Eingang der Grotte hielt sie noch einmal inne und wandte sich ein letztes Mal dem Baum zu. Irgendetwas sollte sie tun, doch sie kannte keine Rituale oder Gebete. Sie war nie gottesfürchtig gewesen, hatte stets in der Meinung gelebt, Religion sei etwas für Priester und Verzweifelte. Hier jedoch fühlte sie eindeutig eine Spiritualität, die sie tiefe Ehrfurcht lehrte. Es war unmöglich zu leugnen, dass eine uralte Wesenheit hier herrschte.
Schließlich neigte sie einfach respektvoll den Kopf. „Danke“, flüsterte sie.
Mehr blieb nicht zu sagen.
***
Ohne anzuklopfen, platzte sie in Berekhs Unterkunft, als dieser gerade ein neues Hemd überstreifte. Sie kam nicht umhin, die Blessuren zu bemerken, die sich über Brust und Rücken erstreckten. Bevor sie sich davon mitleidig stimmen ließ, besann sie sich wieder auf den Angriff, der ihre Verteidigung war.
„Wo warst du?“, fuhr sie den verdutzten Magier an, der nur allzu rasch in seine gewohnte Art zurückfand und ihr lachend Konter gab.
„Hätte ich mich abmelden müssen? Verzeih mir, meine Gebieterin“, erklärte er mit einer Verbeugung, die spöttisch hätte sein sollen, von seinen schmerzeingeschränkten Bewegungen aber zunichtegemacht wurde.
„Kraja läuft herum und erzählt vom Schlächter, der uns alle ins Verderben stürzen wird, und du verschwindest einfach!“
Seine Augen blitzten. „Glaubst du das? Dass ich euch ins Verderben stürze?“
„Sie hat es Sikaîl erzählt, was bedeutet, dass wir vielleicht bald keine Kämpfer mehr haben, weil er schon unter normalen Umständen tratscht wie ein Waschweib. Und jetzt ist er vollkommen durchgedreht!“
„Glaubst du es?“, wiederholte er fordernd.
Daena stutzte. „Hältst du mich für dumm? Denkst du, dann wäre ich hier?“
Ein Lächeln durchbrach seine starre Maske, diesmal warm und echt, was sie nur noch weiter aus der Fassung brachte.
„Ich kann mir sehr gut vorstellen, in welcher Situation Kraja mit deinem Saren geplaudert hat. Soll sie herumerzählen, was sie will. Wenn es so weit ist, werden sie
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