Herz in Not
sie, die verarmte Witwe eines weitläufigen Verwandten, wolle um Almosen bitten. Versuchte er lediglich höflich zu sein und hatte sich bereits für eine Ablehnung gewappnet? Ist er deshalb so amüsiert? fragte sie sich im Stillen.
David reichte ihr die Hand. Mit einem kurzen Blick zu ihrer plaudernden Tante nahm Victoria jedoch seinen Arm. Schweigend gingen sie hinaus und durchquerten die Halle. Sie spürte seine Nähe, ihre Hand, die nur leicht auf seinem Arm lag, zitterte. Victoria versuchte, nicht an das Treffen vom Vortag zu denken - nicht daran, wie er ihr Gesicht gestreichelt hatte, wie nahe sein Mund an ihrer Wange gewesen war und dass er sie bestimmt hatte küssen wollen ...
Abrupt blieb David vor einer Tür stehen, öffnete sie und bedeutete Victoria einzutreten. „Mein Arbeitszimmer. Hier verbringe ich die meiste Zeit. Nehmen Sie Platz, Mrs. Hart.“
Victoria wählte einen Stuhl nahe am Fenster mit Blick auf den stillen großen Platz. Die Kutsche der Worthingtons wartete vor dem Haus.
„Auch ein ... sehr schöner Raum“, sagte sie bewundernd, während sie sich in dem holzvertäfelten Zimmer umschaute. Still beobachtete sie das Feuer hinter dem reich verzierten Kamingitter, fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und fragte sich, weshalb sie sich der Täuschung hingab, auf einer Besichtigungstour durch das Haus zu sein.
„Richtig“, meinte er wortkarg, und Victoria glaubte zu wissen, dass er ähnliche Gedanken hegte. Mit zittriger Hand strich sie über ihr perlgraues Seidenkleid. Sie wollte sich nicht einschüchtern lassen. Offensichtlich hatte er bereits von ihren finanziellen Schwierigkeiten erfahren und wartete nur darauf, auf welche Weise sie ihre Bitte um Hilfe Vorbringen würde. Er soll sich gedulden, beschloss sie. Wenigstens den Versuch zu einer höflichen Unterhaltung wollte sie machen. Schließlich war man einst eng befreundet gewesen ...
„Wie geht es Ihrer Mutter, Lord Courtenay?“ Victoria wusste nicht so recht, wie sie fortfahren sollte, denn sie erinnerte sich plötzlich , dass
David nur sehr selten und wenn, dann voller Sarkasmus und Bitterkeit seine Eltern erwähnt hatte.
„So genau weiß ich das nicht, Mrs. Hart. Ich habe sie schon über ein Jahr nicht mehr gesehen. Aber vermutlich geht es ihr ganz gut, denn ich habe noch keine Arztrechnungen erhalten.“
Victoria war fassungslos. Mit welcher Kälte spricht er über seine Mutter? Wird er mich auch so behandeln? fragte sie sich. Noch konnte sie auf höfliche Weise der seelenlosen Pracht dieses Hauses entfliehen und im rauen Hertfordshire Zuflucht bei Alexander Beresford suchen. „Und Ihre Schwester Clarissa?“ fragte Victoria leise und fast verzweifelt, zumindest ein wenig von ihm zu erfahren. Damals, als sie David kennen lernte, war Clarissa erst kurz verheiratet gewesen. Sie wusste, dass seine Beziehung zu der Schwester nicht besonders eng gewesen war. „Hat sie Kinder?“
David dachte an seine blonde Schwester und verzog verächtlich den Mund. Ja, ich habe eine Nichte und einen Neffen.“ Langsam ging er zum Fenster, stellte sich dicht neben Victoria und schaute schweigsam auf den Platz hinunter. Einen Moment lang dachte er an seine Familie. Clarissa war ganz die Tochter ihrer Mutter. Wer der Vater war, konnte man nur vermuten. Vielleicht der strohblonde Pferdeknecht, der zur Zeit ihrer Geburt auf Hawkesmere diente. Damit ließ sich zumindest ihre Vorliebe für Pferde und die Ställe erklären, wo sie sich mit jedem Mann herumtrieb, der sie haben wollte. Nur sein Bruder Michael war das Produkt der ehelichen Vereinigung seiner Eltern gewesen, er selbst und seine Schwester waren Bastarde. David verzog die Lippen zu einem Hohnlächeln. Von sich konnte er zumindest behaupten, von äußerst erlauchter Abstammung zu sein.
Die Frau neben ihm schwieg verlegen. David betrachtete ihr schwarzes Haar, erfreute sich an ihrem rosigen Teint und bemerkte, dass sie die zittrigen Hände auf dem Schoß verschränkt hielt. Ihre Nervosität rührte ihn. Er ahnte, dass sie während ihrer Ehe keine Liebhaber gehabt hatte und nun nicht wusste, wie sie ihm ihren Vorschlag vortragen sollte. Er selbst war da wirklich erfahrener. Ich sollte es ihr nicht so schwer machen, beschloss er. Obwohl ... vor sieben Jahren hatte sie es ihm durchaus nicht leicht gemacht, damals hätte er sein Leben für sie gegeben, und sie hatte nicht einmal ein paar Tage gewartet. Vorsichtig hob er die Hand, um Victoria zu berühren, sie zu trösten ... doch
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