Herz in Not
Unzählige Frauen aller Altersklassen und aller Gesellschaftsschichten sind genau wie ich auf der Suche nach dem passenden Mann. Nur stellen die meisten vielleicht nicht so hohe Ansprüche, und bestimmt ist es ihnen nicht so peinlich, so bald wieder zu heiraten, überlegte Victoria traurig. Im Geiste hörte sie die Klatschtanten der feinen Gesellschaft schon flüstern und sah, wie sie an ihren juwelenbeladenen Fingern die Monate seit Daniels Tod abzählten.
Die Schulden erlaubten Victoria jedoch kein Trauerjahr. Bei David Hardinge habe ich die besten Chancen, sagte sie sich immer wieder. Er ist reich und hat einst zumindest ein wenig für mich geschwärmt, und ich selbst... ihre Gefühle spielten keine Rolle mehr.
David war ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, wie sie gestern Abend von Margaret Worthington erfahren hatte. Ich habe ihm ein Geschäft vorzuschlagen, sagte Victoria sich. Mehr nicht. Entweder er zeigt Interesse oder nicht. Lehnt er meinen Vorschlag ab, so bleibt mir nur noch Emmas Geburtstagsball ...Verzweifelt schlug Victoria die Hände vors Gesicht. Ihre Situation war so absurd, dass sie lachen musste.
„Na, siehst du.“ Matilda strich ihrer Nichte aufmunternd über den Kopf. „Dein Vater wird stolz auf dich sein ...“
Victoria dachte an die hagere Gestalt. Mit kaum verborgenem Mitleid hatte Dr. Gibson ihr erklärt, dass Charles Lorrimers körperliche
Verfassung ausgezeichnet sei und er noch viele Jahre zu leben hätte.
Matildas verzückter Ausruf: „O Gott!“ riss Victoria aus ihren trüben Gedanken. Als sie aufschaute, sah sie als Erstes den Lakai in blau-goldener Livree, der bewegungslos neben der Kutsche stand, dann wanderte ihr Blick zu der eleganten Stadtresidenz. Entmutigt sank sie in die Polster zurück. Eine solche Pracht hatte sie noch nie gesehen. Um Gottes willen, dachte sie, dieser Mann will bestimmt keine verarmte Witwe, er könnte die Tochter eines Herzogs heiraten.
Selbst Matilda schien überwältigt. „Oje“, hauchte sie erschrocken.
Victoria nahm all ihren Mut und Stolz zusammen. Für einen Rückzug war es zu spät. Der Lakai hielt bereits den Wagenschlag auf. „Tante Matty?“ mahnte Victoria. „Allein möchte ich da nicht hineingehen. Ich muss an meinen Ruf denken“, versuchte sie zu scherzen. „Komm, was haben wir schon zu verlieren? Er kann doch nur Nein sagen.“
5. KAPITEL
„Du machst einen Fehler, David“, versuchte Richard Du Quesne den Freund zu warnen.
Sorgfältig band David seine leuchtend blaue Seidenkrawatte, zog die schwarze Frackjacke über und zupfte die schneeweißen Leinenmanschetten zurecht. „Meinst du?“ fragte er desinteressiert, als er sich endlich von seinem Spiegelbild trennte und eine Zeit lang den diamantenen Hemdenknöpfen seine Aufmerksamkeit schenkte. Gelangweilt blickte er schließlich auf. „Wieso?“
„Ich kann mich gut an Victoria erinnern“, hob Richard an. „Sie ist so ...“ Er lachte verlegen. „Sie ist eben keine Mätresse.“
„Umso besser. Dann habe ich es ja leicht“, spottete David.
Richard sah aus dem Fenster auf den Beauchamp Place. Irgendwie hatte er das Gefühl, die schwarzhaarige Schönheit mit dem hellen Teint, die gerade aus der Kutsche stieg, beschützen zu müssen. Sieben Jahre hatte er sie nicht gesehen, aber er erinnerte sich gut an ihre natürliche Art. Und an eins erinnerte er sich ganz besonders: David war so verliebt gewesen, dass er, der damals zu Richards ausgelassensten Freunden zählte, praktisch über Nacht gezähmt war - und das von einem unschuldigen knapp achtzehnjährigen elfenhaften Wesen. Nachdenklich betrachtete Richard den Freund. Ein anderer Mann war David seinerzeit zuvorgekommen. Auch wenn David es nicht wahrhaben wollte, er hatte die Niederlage nie ganz verwunden.
Richard kannte David seit der gemeinsamen Schulzeit. Als Victoria den ältlichen Witwer geheiratet hatte, war Richard Zeuge von Davids unendlicher Verzweiflung geworden. Doch dann hatte sich der Freund zusammengerissen und sich schließlich zu einem erfolgreichen Geschäftsmann entwickelt.
Jeremiah Claverings grauer Kopf erschien an der Tür. „Ich habe Mrs. Hart und Mrs. Sweeting in den Blauen Salon geführt, Mylord.“
David nickte. „Bringen Sie uns in zehn Minuten den Tee“, wies er den Butler an. „Komm, lassen wir die Damen nicht warten“, forderte er dann seinen schweigsamen Freund auf. „Ich nehme an, du hast dir inzwischen überlegt, worüber du mit einer Dame fortgeschrittenen Alters sprechen
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