Herzbesetzer (German Edition)
uns einen Tisch, und er fängt an, sich durchzufressen. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass er im Kino schon eine große Tüte Gummibärchen vernichtet und sich mit mir einen Jumboeimer Popcorn geteilt hat, weil das nämlich der Grund dafür ist, dass ich meinerseits überhaupt keinen Appetit mehr habe – aber mein Wachstum ist ja auch wahrscheinlich abgeschlossen. Es dauert wenige Minuten, bis die Tabletts nur noch mit fettigen Abfällen bedeckt sind, und Anoki sagt: »Ich geh mal schnell aufs Klo.«
Da ich keine Gelegenheit auslasse, ihm unbemerkt hinterherzugaffen, kriege ich mit, dass er die Toiletten links liegenlässt und stattdessen schnurstracks aus dem McDonald’s rausgeht. Erst denke ich, er ist vielleicht ein bisschen zerstreut – was kein Wunder wäre angesichts der Überdosis an zellzerstörenden Giftstoffen, die er gerade zu sich genommen hat –, aber dann fällt mir die SMS ein und sein komischer Gesichtsausdruck, und ich werde nervös. Fünf Minuten gebe ich ihm, dann bringe ich die Tabletts weg und gehe ihm nach.
Ich muss nicht lange suchen. Unmittelbar hinter dem Restaurant gibt es eine brachliegende Freifläche, an deren Rand ein Auto geparkt ist. Drei große Kerle und eine kleinere, langhaarige Gestalt halten sich dort auf und führen eine hitzige Diskussion. Ich bin noch zu weit entfernt, um etwas zu verstehen, aber ich kann trotz der Dunkelheit erkennen, dass mein risikofreudiger kleiner Bruder sich hier mit drei Erwachsenen angelegt hat. Bald habe ich mich nah genug herangeschlichen, um das Gespräch mithören zu können. Na ja, ein Gespräch ist das eigentlich nicht – eher ein heftiger Streit.
»Weggeschmissen?«, höhnt einer der Typen. »Du hast die weggeschmissen? Mann, so ’ne Scheiße hab ich ja noch nie gehört. Willst du mich verarschen?«
Ich höre Anoki antworten: »Leck mich doch. Ist mir egal, ob du das glaubst, jedenfalls hab ich keine mehr vertickt. Und ich will auch nicht mehr. Lasst mich einfach in Ruhe, ja?«
Ein anderer der drei macht einen Schritt auf Anoki zu. »Also hör mal zu, Freundchen, du schuldest mir noch genau dreihundertfünfzig Tacken. Und einfach so aussteigen geht gar nicht. Wir haben ja auch Kosten gehabt. Das hättste dir früher überlegen müssen!«
Sein Kumpel neben ihm fügt hinzu: »Ist ja nicht das erste Mal, dass du kneifst! Erst nimmste den Mund immer voll, und dann willste plötzlich nüscht mehr von wissen!«
Ich kann mir denken, worum es hier geht, und hoffe zugleich, dass ich mich irre. Zwei Dinge sind jedenfalls klar: Anoki steckt in Schwierigkeiten, und diese Typen sind keine Streetworker. Und drittens hab ich keine Ahnung, was ich tun soll. Die Zankerei geht hin und her, während ich stumm darum flehe, dass Anoki nicht so aufsässig und frech sein möge, weil er seine Widersacher damit immer wütender macht. Er redet mit ihnen, als wären sie die lästigen Eintreiber von der GEZ, dabei ist keiner von denen unter eins neunzig, und sie tragen schwarze Lederjacken und haben geschorene Köpfe und wiegen zusammen wahrscheinlich so viel wie eine Mittelklasselimousine. Schließlich dreht Anoki sich um und will sie einfach stehenlassen. Von so viel Dreistigkeit sind sie ein paar Sekunden lang beeindruckt. Aber dann macht einer von ihnen einen Schritt nach vorne und packt Anoki so grob an der Schulter, dass er wie ein Lumpenpüppchen zu Boden geht. Ich halte die Luft an.
Anoki ist sofort wieder auf den Beinen und tobt: »Fass mich nicht an, du Wichser!«
Leider lässt sich das Geschehen nicht mehr aufhalten. Vor meinen Augen wird mein kleiner Bruder zusammengeschlagen, und jeder Hieb schmerzt mich wahrscheinlich mehr als ihn. Er versucht, ein paar Karategriffe anzuwenden, aber dafür hat er noch zu wenig Erfahrung.
Wenigstens bin ich jetzt geistesgegenwärtig genug, die Polizei anzurufen. Es dauert ewig, bis einer rangeht, und der lässt sich zweimal den Namen der Straße buchstabieren und sagt dann schläfrig: »Wir schicken jemand hin«, aber das ist wenigstens ein Anfang. Anschließend renne ich mitten auf den Schauplatz des Verbrechens und brülle: »So, das reicht! Lasst den Jungen los, ihr feigen Arschlöcher! Die Polizei ist unterwegs!«
Alle drei – genauer gesagt: alle vier – starren mich fasziniert an. Keiner glaubt, was er da sieht. Ein einzelner milchgesichtiger Großstadtheini ohne nennenswerte Muskulatur und Bewaffnung mischt sich in einen Bandenkrieg ein? So eine Szene haben die bestimmt alle schon mal im Kino
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