Herzblut 02 - Stärker als der Tod
bei Chemie helfen oder nicht?“
Anscheinend war er nicht sauer. Seine Gedanken drehten sich nur noch um die Hausaufgaben. Aber er benahm sich eindeutig anders als sonst.
Seufzend gab ich auf und nahm mein Chemiebuch.
Am nächsten Tag hatte ich eigentlich vor, mir in der Pause beim Lernen was einfallen lassen, um die Hüter zu erwähnen, aber vor der zweiten Stunde lief ich Michelle über den Weg. Ich wollte gerade zu meinem Englischkurs, als sie aus dem Sekretariat kam.
„He, wir haben dich gestern Mittag vermisst“, begrüßte sie mich. „Heute kommst du aber, oder?“
„Äh, klar. Sicher.“ Vielleicht sollte ich versuchen, wieder in der Cafeteria zu essen. Ich sollte mich meiner Angst vor überfüllten Räumen stellen, die immer größer wurde, und probieren, ob ich das Gedankenlesen kontrollieren konnte. Im Unterricht hatte ich es jedenfalls noch nicht geschafft. Ohne die Zusammenfassungen, die ich in jeder Stunde auf dem Overheadprojektor lesen konnte, die Lehrbücher und Rons Hilfe in Chemie hätte ich schon ein echtes Problem gehabt. Ich würde dem Unterricht erst wieder folgen können, wenn ich gelernt hatte, wie ich die Gedanken von allen anderen im Raum ausblenden konnte.
„Klasse! Dann bis nachher.“ Michelle winkte lächelnd. Dann bog sie in einen Seitenflur ein, um zu ihrem Kurs zu gehen.
Seufzend machte ich mich auf den Weg zum Englischunterricht.
Es fiel mir schwer, nicht auf meinem Stuhl herumzurutschen und Tristan heimlich zu beobachten, während die Lehrerin ihren Unterrichtherunterleierte. Tristan hing auf seinem Stuhl, die Beine lang ausgestreckt und an den Knöcheln übereinandergeschlagen, die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Ein reizendes Stirnrunzeln rundete das Bild ab.
Schon seit ich hereingekommen war, saß er so da. Als wäre es ihm völlig egal, ob ich da war oder nicht.
Im Gegensatz zu mir. Je mehr ich an ihn dachte, desto lauter wurden die fremden Gedanken in meinem Kopf. Ich musste ruhiger werden und an etwas anderes denken. Also schloss ich die Augen und stellte mir vor, ich würde auf einer sonnigen Anhöhe Tai-Chi machen, während mir eine kühle Brise über die Haut strich …
„Miss Colbert.“
Ich riss die Augen auf. Mrs Knowles stand vor dem Whiteboard und funkelte mich an.
„Würden Sie bitte versuchen, in meinem Unterricht nicht einzuschlafen?“
Hinten kicherte jemand. Wenigstens hatten sich meine ASW so weit heruntergeschraubt, dass ich die Lehrerin verstehen konnte.
„Ja, Mrs Knowles. Tut mir leid“, murmelte ich.
„Danke. Wie ich gerade schon sagte …“ Mrs Knowles machte mit dem Unterricht weiter und schrieb etwas ans Board.
Die fremden Gedanken lärmten nicht mehr so in meinem Kopf, aber leider spürte ich dadurch Tristans Gefühle stärker. Und was er ausströmte, war alles andere als Sonnenschein und Regenbogen.
Seine Wut und sein Schmerz waren fast überwältigend, sie rollten in dunklen Wellen auf mich zu. Ich hätte sie fast sehen können, wenn ich mich getraut hätte, ihm einen Blick zuzuwerfen.
Vielleicht war er mit seinem verletzten Stolz doch nicht so gut über uns hinweggekommen, wie alle glaubten.
Als es zur Mittagspause klingelte, war ich überrascht. Weil Tristan sich Zeit ließ, schnappte ich mir schnell meine Bücher und floh, damit wir nicht zusammen zur Tür gehen mussten.
„Hey.“ Als mich direkt vor der Klassentür ein Junge ansprach, machte ich fast einen Satz.
Wie erstarrt blickte ich hoch. Es war Ron.
„Oh. Hallo, Ron.“ Wir gingen aus der Nische zwischen den beidenEnglischräumen auf den Hauptflur und ließen uns im Strom treiben.
„Treffen wir uns heute Mittag wieder?“, fragte er.
„Oh, äh, ich habe Michelle vorhin versprochen, dass ich heute mit den Mädels esse. Können wir es auf morgen verschieben?“
Leichte Enttäuschung flackerte in Ron auf, zusammen mit dem Refrain von Celine Dions All by Myself . Fast hätte ich gelacht. Ich verkniff es mir, indem ich mir auf die Unterlippe biss.
Trotzdem lächelte er schief und zuckte leicht mit den Schultern. „Klar, kein Problem. Dann bis morgen.“
Er winkte mir zum Abschied zu und ging zur Bücherei.
Als ich ihm nachsah, musste ich doch lächeln. Ron oder jemand aus seiner Familie war ein echter Fan von Celine Dion. In dem überfüllten Flur konnte ich seine Gedanken nur schwer heraushören, aber ich bekam ganz leise mit, wie er das Lied weitersummte.
Er schien richtig nett zu sein. Warum hatte er keine Freunde? Müsste er nicht mit den
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