Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
sein, dass ihm das nicht schon früher aufgefallen war. Jetzt, wo es ihm dämmerte, schien es so offensichtlich. Doch noch vor ein paar Minuten waren sie allesamt an diesem Problem gescheitert.
»Die Reihenfolge auf der Wand ist falsch«, flüsterte er in die Stille des Raums, als habe er Angst, der Gedanke könne wieder verschwinden, wenn er ihn nicht aussprechen würde. Langsam erhob er sich, ging auf die Wand zu und ordnete die Notizen, die dort hingen, neu. Als er fertig war, trat er ein paar Schritte zurück, ohne die Wand aus den Augen zu lassen. Er stieß gegen die Tischkante und setzte sich wie in Trance darauf, das Bild vor sich ungläubig fixierend.
Sie hatten die Dokumente in der Abfolge der Leichenfunde angeheftet, tatsächlich war aber die zweite Leiche, die sie gefunden hatten, also die des Versicherungsmaklers, bereits der dritte Mord gewesen. Das wussten sie längst, aber wegen der Anordnung auf der Pinnwand hatte der Gedanke, der Kluftinger gerade wie ein Blitz getroffen hatte, keine Gestalt annehmen können, war eine vage, lähmende Ahnung geblieben, dass sie irgendetwas Wesentliches übersehen hatten.
Doch jetzt, im Angesicht der richtigen zeitlichen Abfolge und mit den Informationen über die Täter, die er heute gewonnen hatte, war es klar: Er blickte nicht nur auf eine lose Folge verschiedenster, brutaler und willkürlicher Morde. Nein, er blickte auf eine Kausalkette. Alle diese Morde hatten ein und denselben Ursprung, und jeder Mord bedingte den anderen.
Er ließ sich ein paar Sekunden Zeit, um diese Erkenntnis zu verdauen. Dann fiel ihm ihr Abstecher in die Wohnung der Täter wieder ein: Hatte nicht die Nachbarin des Geschwisterpaars das heute schon angedeutet?
Es kommt immer eins zum anderen,
hatte sie gesagt. Vielleicht war es genau dieser Satz gewesen, der sich in seinem Unterbewusstsein festgesetzt und ihn nun zu dieser Klarheit geführt hatte.
Natürlich kam hier eins zum anderen.
Und Ausgangspunkt war der Selbstmord des Vaters,
hatte die Frau außerdem gesagt. Aber das stimmte nicht, das war nicht der Auslöser, nicht in den Augen der Mörder, die tote Ordnungsamtschefin belegte das.
Der alte Mann hatte sich umgebracht, weil es mit seinem Betrieb, seinem Lebenswerk, dem Lebenswerk mehrerer Generationen seiner Familie bergab gegangen war. Doch auch für diesen wirtschaftlichen Niedergang hatte es einen Grund gegeben: den Unfall mit dem schwerverletzten Kind. Natürlich wollte danach niemand mehr in ihr Kettenkarussell einsteigen. Ob sie etwas dafür konnten oder nicht. Egal, ob das Sicherheitsrisiko überhaupt noch bestand. Schließlich war dann nur noch das alte Kinderkarussell mit den geschnitzten Figuren geblieben.
Die Geschwister gingen davon aus, dass die Schuld bei anderen lag. Und machten die Frau vom Ordnungsamt, die ihnen einen vermeintlich schlechten Platz zugewiesen hatte, als Verantwortliche und damit als Opfer aus.
Damit war diese Frau zwar die letzte Leiche, aber der erste Dominostein, der die anderen unweigerlich umgestoßen hatte, das am weitesten zurückliegende Glied der Kausalkette, die dem mordenden Geschwisterpaar die Richtung vorgab. Weiter ging es mit der daraus resultierenden Krankheit der Mutter, die nur deswegen nicht richtig behandelt werden konnte, weil der Versicherungsmakler ihr das falsche Produkt angedreht hatte: Christian Hübner. Dann der Arzt, der sie trotz fehlendem Defibrillator in die Studie aufgenommen hatte. Doktor Steiner, Opfer Nummer zwei. Und schließlich der Taxifahrer, der das Herz bekommen hatte, das eigentlich für die Mutter reserviert gewesen war. Vielleicht das tragischste Opfer von allen. Hatte er bei der Zuteilung nachgeholfen? Es hatte in letzter Zeit ja einiges über dubiose Praktiken bei Organspenden in der Zeitung gestanden. Eigentlich spielte das hier aber nur am Rande eine Rolle, darum würden sich andere kümmern müssen. Am Ergebnis änderte es ohnehin nichts.
Der Kommissar war bestürzt. Es war eine pervertierte Opferrolle, in die sich die Familie geflüchtet hatte. Eine Kette von Schuldzuweisungen, die jegliche Verantwortung für das eigene Leben negierte. Wäre denn das Unglück auf einem anderen Platz nicht passiert? Hätten sie das Ruder trotz des Unfalls noch herumreißen können, wenn die Mutter noch am Leben wäre?
Wäre, hätte, könnte … Kluftinger wurde mit einem Mal die Gefährlichkeit solch hypothetischer Überlegungen bewusst. Hatte er nicht in den letzten Tagen immer wieder selbst so gedacht:
Hätte
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