Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
»Nerven- und Beruhigungstee« gemacht –, stand er vor dem Polizeigebäude und zog seinen Schal etwas enger. Es war nicht recht warm geworden, Nebel war aufgezogen, und eine feuchte Kälte machte diesen Vormittag unangenehmer, als es am Morgen ausgesehen hatte. Entschlossenen Schrittes setzte er sich in Bewegung. Er wollte noch einmal zum Tatort gehen, denn er hatte den Eindruck, dass ihn der Schreck über das Gesehene bei seinem ersten Besuch gelähmt hatte. Und ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass er möglicherweise etwas Wichtiges übersehen hatte.
Sein Weg führte ihn über den Königsplatz. Er hielt kurz inne, denn dort befanden sich keine parkenden Autos wie sonst, sondern riesige Aufbauten, deren Stahlgerüste wie die gekrümmten Finger einer knochigen Hand in den dunstigen Himmel ragten. Erst nach ein paar Sekunden dämmerte ihm, was er da sah: Der Jahrmarkt wurde gerade aufgebaut. Jetzt erinnerte er sich auch wieder an den Hinweis im Intranet, dass es dort nun für zwei Wochen keine Parkmöglichkeit mehr geben würde.
Er zuckte die Achseln und ging zwischen zwei Wohnwagen hindurch auf den Platz. Er mochte den Jahrmarkt, hatte ihn immer gemocht. Vielleicht wäre es ja eine gute Idee, zusammen mit Erika und Markus mal wieder hierherzukommen. Früher hatten sie schöne Stunden auf diversen Rummelplätzen verbracht. Früher, als alles noch anders, unbeschwert gewesen war.
Er wusste nicht, ob es seine düstere Stimmung oder der Nebel war, aber dieser halb fertige, bis auf ein paar Arbeiter verlassene Jahrmarkt verbreitete nicht die fröhliche, lebendige Stimmung, die er mit einem Rummelplatz verband. Im Gegenteil: Bedrohlich, ja feindselig ragten die Metallgerüste in die Höhe, und immer wieder tauchten hinter einer Ecke verzerrte Fratzen der Jahrmarktsdekoration auf. Als er an der Geisterbahn vorbeikam, beschleunigte er seinen Schritt unwillkürlich. Ein riesiges grünes Monster lag vor der Bahn auf dem Boden, den bluttriefenden Rachen weit aufgesperrt, die an Spinnenbeine erinnernden Finger nach ihm ausgestreckt. Kluftinger rannte nun beinahe. Erst als er die Straße vor dem Platz überquert hatte und in den Stadtpark trat, hielt er an und atmete ein paarmal tief durch. Sein Herz schlug schnell. Er konzentrierte sich auf das Gefühl des pochenden Organs in seiner Brust, versuchte, Unregelmäßigkeiten im Rhythmus oder sonstige Auffälligkeiten zu erkennen. Doch bis auf seinen beschleunigten Puls fühlte sich alles normal an, regelmäßig wie ein Uhrwerk. Ein wenig beruhigter setzte er seinen Weg fort.
Als er an der Lorenzbasilika vorbeikam, überlegte er kurz, ob er eine Kerze anzünden sollte, doch er entschied sich dagegen. Er würde seinen Gesundheitsproblemen durch ein Gebet nur noch mehr Bedeutung zugestehen, als sie ohnehin schon hatten.
Wenig später stand er wieder vor dem Haus, in dem sich gerade noch die Leiche befunden hatte. Ein solcher Mord im
Herzen
der Stadt, dachte Kluftinger, und ein bitteres Lächeln schlich sich ob dieser Metapher auf sein Gesicht.
Da er selbst nicht so genau wusste, wonach er suchen sollte, schlenderte er einfach ziellos umher, sah sich um, ließ die Stimmung dieses Ortes auf sich wirken. Er ging an der Haustür vorbei, blieb kurz stehen, sah zu dem Platz, an dem der Nachbar das Pärchen gesehen hatte, ging zurück – und hielt abrupt inne. Fahrig holte er sein Handy hervor und wählte eine Nummer: »Willi, ich bin’s«, platzte er heraus. »Ich steh grad vor dem Haus von heut Morgen. Sag mal: Habt ihr eigentlich von der Türklingel auch Fingerabdrücke genommen? Also, von der unteren, draußen, mein ich …«
Es blieb ein paar Sekunden lang still, dann hörte Kluftinger ein knappes »Nein«. Er wollte schon etwas erwidern, da schob Willi Renn noch ein »Bin gleich da!« hinterher und hängte ein. Er wusste, dass es für Willi nichts Schlimmeres gab, als ein Versäumnis seinerseits oder seiner Leute einzugestehen. Doch darum war es dem Kommissar gar nicht gegangen.
Er steckte sein Handy weg und stand unschlüssig herum, die Hände tief in den Taschen vergraben. Ein Stück entfernt, in einer Ecke des kleinen Platzes, öffnete gerade ein Imbisswagen. Kluftinger zuckte die Achseln und spazierte hinüber.
»Grüß Gott, hätten Sie auch einen Tee?«, fragte er die Frau, die in dem Wagen stand und zum Klang eines Schlagers von Howard Carpendale gerade ein paar Semmeln aufschnitt.
»Nein, da muss ich um Verzeihung bitten. Tee, Spritzgebäck und das
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