Herzen aus Asche
Dennoch brachte sie es nicht übers Herz, den offensichtlich tief verzweifelten jungen Mann zurückzulassen.
»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er mit leiser Stimme in die Stille hinein. »Lass uns in Ruhe nachde nken und nichts überstürzen.« Er reichte ihr eine Hand, und Amelie griff danach. Sie wusste, dass sie schwach werden würde. Der Zeitpunkt zu gehen und der Villa mitsamt ihrem Erben den Rücken zu kehren war längst verstrichen. Also nickte sie nur und ließ sich von ihm durch den Salon im Untergeschoss führen.
Der Raum war der größte im Haus, mit hohen D ecken, weißen Wänden und einer mit rotem Samt überzogenen Chaiselongue vor dem aus Naturstein gemauertem Kamin. Der Boden bestand aus abgeschliffenen, dunklen Holzplanken und verlieh dem Ambiente eine rustikale Note. Amelie hatte sich in den Tagen seit ihrem Einzig nur ein einziges Mal hier aufgehalten, um durchzufegen. Es gab weder einen Fernseher noch eine Musikanlage. Zwei große alte Ohrensessel standen sich unter einem Bücherregal gegenüber, aber sie wirkten nicht besonders einladend. Sie verströmten einen muffigen Geruch. Wie auf allen Möbeln und Gegenständen fand sich auch hier eine hässliche graue Staub- oder Ascheschicht. Eine große Fensterfront flutete den Raum mit Licht, aber der Ausblick war unspektakulär: ein ungepflegtes Stück Garten, kniehohes Unkraut und dahinter der Mischwald, in dem sich das Anwesen befand.
Leif führte sie zu einer einfachen schmucklosen Hol ztür an der linken Wand, direkt neben dem Kamin. Er zog einen kleinen goldenen Schlüssel aus seiner Jackettasche und schloss auf.
»Befindet sich dahinter der Wintergarten? «, fragte Amelie ungläubig. »Ich dachte, du wolltest ihn nicht mehr betreten. Du sagtest, er sei für mich tabu.«
»Ich habe damals überreagiert, entschuldige.« Er sprach leise und gepresst. Er vermied, ihr dabei in die Augen zu sehen. Man merkte ihm die Zerrissenheit deu tlich an. Wollte er sie bestechen, damit sie nicht auszog? Amelie empfand Mitleid und fühlte sich unwohl.
»Du musst das nicht tun, wenn es dir Unbehagen b ereitet«, sagte sie und berührte ihn dabei sanft an der Schulter. Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, als er die Tür aufstieß. Er sagte nichts, sondern nickte nur. In seinen Augen las sie Traurigkeit, ein Schmerz, der tief aus seiner Seele zu kommen schien.
Sie folgte ihm durch die Tür in einen gläsernen A nbau, der von den Fenstern der Villa aus nicht einzusehen war. Leif betätigte einen Schalter, und mehrere an der Decke hängende, zapfenförmige Glühlampen erhellten den Innenraum. Er erstreckte sich mehr als zehn Meter an der Westseite der Gebäudemauer entlang, und war etwa fünf bis sieben Meter tief. Die Scheiben waren schmutzig und dreckverkrustet. Sie hätten auch bei Tageslicht kaum einen Sonnenstrahl durchgelassen. Rost fraß sich durch die metallenen Verstrebungen zwischen den Scheiben. Es roch nach muffiger Feuchtigkeit, die Luft war stickig.
»Dort hinten ist ein Teich, aber er ist leer.« Leif deut ete auf die hintere rechte Ecke des Gartens. »Es tut mir leid, dass der Garten so ungepflegt aussieht. Er war einst der schönste Ort des Anwesens. Ich habe ihn anders in Erinnerung behalten. Ich dachte, ich könnte dir etwas Schönes zeigen.« Leifs Gesicht war blass, blasser noch als sonst. Er schien sich vor dem Anblick des verwahrlosten Wintergartens zu erschrecken. Wie lange war er nicht mehr hier gewesen?
»Es ist immer noch schön hier.« Am elie wusste nicht, was sie anderes darauf hätte erwidern sollen. Sie wollte seine Gefühle nicht verletzen. Sie kannte ihn kaum, aber aus einem für sie unerklärlichen Grund fühlte sie sich ihm verbunden. Er schien ein einsamer Mann zu sein, verletzlich und vom Schicksal geprügelt. Während ihrer ersten Unterhaltung am Telefon hatte er freundlich und lebensfroh gewirkt, aber die Fassade bröckelte bereits seit einigen Tagen. Er tat Amelie leid, und gerne hätte sie ihm geholfen, doch er gab sich nach wie vor verschlossen.
Sie ließ den Blick durch den Garten schweifen. Trotz des Unkrauts und des Schmutzes konnte man noch e rkennen, wie schön es einst hier gewesen sein musste. Gegenüber des Teiches stand eine gusseiserne Bank mit kunstvoll geschwungenen Armlehnen, davor ein passender runder Tisch. Ein gepflasterter Weg führte zwischen zahlreichen Blumenkübeln hindurch, aus denen jedoch nur noch verdorrte Pflanzenreste in schimmeliger Erde hervorragten. Amelie trat einen Schritt auf
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