Herzen aus Asche
innere Kälte durchströmte sie, doch sie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich nur von dem tiefen Entsetzen herrührte, das sie packte und schüttelte.
»Es tut mir leid, Amelie.« Das ehrliche Bedauern in seiner Stimme ließ sie erneut erschaudern. »Ich bin so lange einsam gewesen.«
Er hielt sie noch immer, und seine Arme stützten sie. Amelie glaubte nicht, aus eigener Kraft sitzen zu können. »Leif, was war das?« Mehr als ein Hauchen brachte sie nicht zustande, kaum hörbar und kraftlos.
Er schwieg, sah jedoch nicht minder erschrocken aus als sie, seine Gesichtsfarbe war noch blasser als sonst. »Ich weiß, dass es dumm ist, und dennoch fühlt es sich richtig an«, sagte er nach einer Pause. »Ich liebe dich, Amelie.«
Sie wusste nichts darauf zu erwidern. Die Szene um sie herum verschwamm zu einem grotesken Farbenmeer, ihr wurde schwindlig. Amelie rutschte aus seinen Armen, glitt vom Sofa. Er packte sie unter den Achseln und versuchte, sie wieder heraufzuziehen, aber es gelang ihm nicht. Es war, als hätte er keine Kraft dazu. Er war ein großer Mann mit breiten Schultern, und dennoch schien er Amelies Gewicht nicht tragen zu können. Wie konnte das sein? Was stimmte nicht mit ihm?
Als sich das Bild vor ihren Augen schärfte, saß Amelie mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden. Sie wandte den Kopf, und zu ihrem Entsetzen sah sie Leif, der das Foto betrachtete, das zuvor in ihrer Gesäßtasche gesteckt hatte. Es musste herausgeglitten sein.
»Woher hast du das?«, fragte er kraftlos, ohne davon aufzusehen.
Amelie stützte sich mit den Armen ab und hievte sich umständlich zurück auf das Sofa. Sie fühlte sich, als hätte sie zuviel Alkohol getrunken. »Aus der zweiten Etage. Ich habe mit dir darüber sprechen wollen, aber es hat sich nicht ergeben, wie du gemerkt haben solltest.« Sie lächelte verlegen, aber Leif schien sich weder für ihre Erklärungsversuche noch für ihren scherzhaften Unterton zu interessieren. Mit starrer Miene und zittrigen Händen sah er auf das Foto, als könnte er dort die Antworten auf seine Fragen finden.
»Wer ist der Junge auf dem Bild?« Er sprach so leise, dass Amelie genau hinhören musste, um ihn zu verst ehen. »Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals in Almunge gewesen zu sein.«
»Leif, ich befürchte, das ist den Zwillingsbruder.«
Er hob langsam den Blick, doch Amelie konnte nichts darin lesen. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. »Ich habe keine Geschwister.« Auch seine Stimme hatte eine nüchterne Färbung angenommen, als sei er ein Roboter.
»Ich hatte gehofft, du könntest mir etwas über Loan erzählen. Den Briefen konnte ich entnehmen, dass er bei seinem Vater - Olof Hellström - aufgewachsen ist.« Am elie fühlte sich noch immer schwach, und die Tatsache, dass sie Leif nun unfreiwillig mit einem Familiengeheimnis konfrontiert hatte, ließ sie sich wünschen, in Ohnmacht zu fallen.
»Welche Briefe?«
»Oben hinter dem Portrait des alten Mannes ist ein Geheimfach in der Wand. Ich habe es zufällig entdeckt. Leif, ich wollte nicht spionieren, wirklich nicht! Es ist, als wäre es nicht ich selbst gewesen, die das gemacht hat, das musst du mir glauben. Ich fühle mich schon seit Tagen nicht mehr wie ich selbst.« Sie atmete einmal tief ein und aus, denn ein erneuter Weinkrampf kündigte sich an. Sie fächelte sich mit den Händen Luft ins Gesicht.
Leif erhob sich vom Sofa, das Foto hielt er so fest zw ischen Daumen und Zeigefinger, dass sich seine Knöchel weiß verfärbten. Ohne noch ein Wort zu sagen, wandte er sich ruckartig um und stürmte zur Tür hinaus, als hätte ihn eine Biene gestochen. »Ich muss es sehen!«, rief er vom Flur aus.
Amelie stand ebenfalls auf. Auf wackeligen Beinen ging sie zur Tür und spähte hinaus, doch von Leif war nichts zu sehen. Weder hörte sie das Rumpeln der in der Dachluke eingeklappten Leiter, noch Schritte auf dem Parkettboden.
»Das ist unmöglich, das kann nicht wahr sein!«
Amelie fuhr herum und stieß vor Schreck einen Schrei aus. Leif stand plötzlich wieder hinter ihr, in de r Hand hielt er den kompletten Stapel Briefe aus dem Geheimfach. In seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck, eine Mischung aus Entsetzen und Wahnsinn.
»Leif, du bist doch gerade noch im Flur gewesen! Wie kommst du an die Briefe? Du kannst sie nicht innerhalb von zwei Sekunden geholt haben und wie aus dem Nichts hinter mir auftauchen.« Amelies Magen rebellierte. Sie musste gegen den Drang ankämpfen, sich zu
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