Herzen aus Asche
fragen?«
»Du darfst, aber ich kann dir nicht versprechen, dir auch zu antworten.« Er grinste nun über das ganze Gesicht, als hätte er den Ernst ihrer vorangegangenen Diskussion abgestreift wie ein Kleidungsstück. Er schien wesentlich besser darin zu sein als Amelie, seinen Fokus auf andere Dinge zu lenken.
»Wo bist du, wenn du mich nicht besuchst?«
»Was meinst du?«
»Du kommst unregelmäßig, zu unterschiedlichen Uhrzeiten. Und dennoch scheinst du immerzu in Eile zu sein, weil du nie lange bleibst.« Amelie zwang sich, se inem Blick standzuhalten. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt mehr von ihm zu erfahren, nicht zuletzt wegen des Dachbodenfundes. Das Foto steckte noch immer in der Gesäßtasche ihrer Jeans. »Was machst du beruflich? Wo wohnst du?«
Leif lächelte noch immer, aber es war nicht mehr ganz so breit wie zuvor. »Ich habe früher für eine Behörde in Uppsala gearbeitet, heute nicht mehr. Jetzt bin ich nur noch freiberuflich tätig. Man könnte sagen, der Tod me iner Eltern hätte mich ein wenig aus der Bahn geworfen.«
»Und was machst du heute?«
Er bohrte seinen Zeigefinger in ihre Schulter. »Du bist ganz schön neugierig, junge Dame.«
»Ist es denn ein so großes Geheimnis? Arbeitest du für die Mafia? Außerdem denke ich, dass du mir mehr über dieses geisterhafte Haus erzählen könntest. Ich habe nä mlich den Eindruck, dass du mehr darüber weißt, als du zugibst.« Ihr freundschaftlicher Umgangston ließ Amelie wagemutig werden. Leifs Erscheinen war so unbeständig wie das Wetter im April, mal kam er jeden Tag, mal eine ganze Woche nicht. Sie nutzte die aufkeimende Vertrautheit zwischen ihnen, um ihm endlich auf den Zahn zu fühlen.
»Würde es dich erschrecken, wenn ich dir sagte, dass das Haus wegen mir zerfällt? Und dass dies der Grund ist, weshalb ich nie lange bleibe, geschweigedenn hier wohne?«
Amelie benötigte einige Augenblicke, um ihre Gedanken zu sortieren. Mit jeder Sekunde, die verstrich, war sie sich sicherer, dass der smarte Hauserbe ebenso wenig natürlichen Ursprungs war wie die Villa. Ihn umwitterten Geheimnisse, die Amelie erschaudern ließen, eine Ausstrahlung, die sie bei ihrem ersten Zusammentreffen schon als besonders empfunden hatte.
»Kannst du es mir erklären?« Sie räusperte sich, denn ihre Stimme klang belegt. Sie fürchtete sich vor dem, was er ihr sagen könnte, und dennoch brannte sie darauf, es zu erfahren.
»Noch nicht.«
»Wann dann?«
»Vielleicht bald, vielleicht nie.«
»Hör auf, mich an der Nase herumzuf...« Sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Leif legte ihr einen Finger auf die Lippen und rückte noch ein wenig näher an sie heran, sodass sein Gesicht nur noch eine Handbreit vor ihrem war. Der Blick in seinen stechend blauen Augen - zugleich voll Liebe und Verzweiflung - jagte ein Zittern durch Amelies Muskeln. Wenn sie nicht bereits gesessen hätte, wären ihre Beine vermutlich unter ihrem Körper eingeknickt. Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
»Zerrede diesen Augenblick nicht, ich habe nicht viel Zeit.« Seine Augen zuckten kurz zum Kaminfeuer herüber. »Ich spüre, dass ich bald wieder gehen muss.«
Ehe Amelie den Mund öffnen konnte, um etwas da rauf zu erwidern, legte er die Arme um ihren Rücken, zog sie zu sich heran und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. An den Stellen, an denen er sie berührte, kribbelte ihre Haut. Sie war nicht imstande, sich zu bewegen, selbst, wenn sie es gewollt hätte.
Zaghaft erwiderte sie seinen Kuss , so unerwartet, so verboten, so - aufregend. Er duftete nach Sommerluft und Salzwasser, wie jedes Mal, wenn er ihr nahe kam. Sie genoss das Gefühl seiner Hände auf ihrem Körper, obwohl ein flüchtiger Gedanke an die Warnungen ihrer Mutter ihr Übelkeit bescherte.
Die Zeit schien zu stehen. Amelie hatte das Gefühl, dass ihr bisheriges Leben auf diesen einen Augenblick zugesteuert hatte. Sie legte ihre Hände auf seine Hüften. Seine Lippen schmeckten ein wenig salzig, seine Haut schien sonderbar kühl. Sie ließ sich in einen Strudel hi nabziehen, konnte plötzlich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es war, als hätte sie starke Medikamente genommen, die ihr Bewusstsein trübten. Sie spürte, wie etwas an ihr zog und zerrte, ein Band zwischen ihr und Leif, fein wie Spinnenseide. Mit einem Mal glaubte sie, dem Tod zu begegnen, ihr Leben auszuhauchen und in seinen Armen zu sterben. Keuchend löste sie sich mit letzter Kraft von Leif. Eine
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