Herzen aus Asche
Recherchen vertrieben, obwohl sie besser daran getan hätte, sich auf das kommende Semester vorzubereiten. Ihr wurde übel, wenn sie daran dachte. Noch kein einziges Kapitel hatte sie durchgearbeitet, und in zwei Wochen würde sie mit der Gnadenlosigkeit der Realität bestraft werden, wenn sie im Hörsaal saß und kein Wort von dem verstand, was ihre Professoren ihr zu vermitteln versuchten.
Sie schob den G edanken beiseite und tippe eine kurze Antwort.
Hallo Mama, mach dir keine Sorgen. Ich bin sehr beschä ftigt. Habe tatsächlich kaum Handyempfang. Ich melde mich bald. Amelie
In Wahrheit grauste es ihr davor, ihrer Mutter zu b egegnen. Sie hatte es in den vergangenen Tagen erfolgreich vermieden, sich mit diesem Problem zu konfrontieren. Sie wollte den Streit aus der Welt schaffen, fand jedoch nicht die Kraft, sich dem nervenaufreibenden Gespräch zu stellen. Ihr Kopf war voll mit anderen Dingen. Immerhin hatte sie erst vor wenigen Tagen erfahren, dass Leif ein ... was eigentlich? Was war er?
Amelie stieß ein tiefes Seufzen aus. Sie verschob die unangenehmen Gedanken auf einen späteren Zeitpunkt. Es würden sich noch hinreichend Gelegenheiten bi eten, sich mit ihrer Mutter auszusöhnen.
Sie stieg die alte Betontreppe zum Haupteingang des Bahnhofsgebäudes hinauf und öffnete die schmucklose Holztür, die mit einem Knarren nach innen aufschwang. Das Innere des Bahnhofs glich einem u naufgeräumten Tante-Emma-Laden. An allen Wänden des etwa zwanzig Quadratmeter großen Raums reihten sich Regale aneinander. Darin lagen vorwiegend Süßigkeiten und allerhand kitschige Souvenirs aus der Umgebung: Elche aus Keramik, Bilder von historischen Eisenbahnen, Brieföffner mit dem Wappen der Stadt Uppsala, Postkarten, bedruckte Tassen, T-Shirts und alles, was Touristen kaufen würden, die nicht aus der Gegend stammten. Durch zwei Fenster fiel das fahle graue Licht des Tages, von der Mitte der Decke aus strahlte eine Neonröhre ungemütlich auf das Interieur hinab. In der Mitte des Raumes stand ein dunkler Schreibtisch, dessen Tischplatte unter zahlreichen Stadtplänen, Werbeflyern und Fotos aus der Umgebung kaum zu sehen war. In einer Ecke des Tisches stand eine große nostalgische Kasse mit Messingfarbenen Knöpfen und einer Kurbel an der Seite. Hinter dem Tisch - der offensichtlich den Thekenbereich darstellte - saß ein junger Mann auf einem Klappstuhl. Er machte nicht den Eindruck, in einem verschlafenen Ort wie diesem Tickets für eine historische Eisenbahnfahrt zu verkaufen. Amelie schätzte ihn auf kaum älter als sich selbst. Er trug weite Jeans und ein schwarzes T-Shirt, um seinen Hals hing eine daumendicke silberne Kette. Ein glänzender Stecker schimmerte an einem Ohr. Er lehnte sich lässig zurück.
»Möchtest du ein Ticket kaufen? Die Eisenbahn fährt erst in einer Stunde wieder.« Er gab sich keine Mühe, höflich zu klingen. Wenn er jeden Gast so beha ndelte, fuhren sicherlich nicht viele Passagiere mit der Bahn.
»Nein , ich möchte kein Ticket kaufen, ich möchte dich bloß etwas fragen.« Da der junge Mann sie geduzt hatte, sah Amelie keinen Grund, ihn höflich anzusprechen.
Der Verkäufer zog die Augenbrauen hoch. »So? Hab dich hier noch nie ges ehen. Bist du eine Freundin von Lisa?«
»Lisa? Nein. Ich komme nicht von hier.«
»Das hätte mich auch gewundert. Hier leben nur Bauern, alte Menschen und Langweiler. Ich bin nur hier, weil meine Freundin unbedingt auf dem Hof ihrer Eltern leben will.«
»Du hast eine seltsame Einstellung zu diesem Dorf, wenn man bedenkt, dass du den Touristen Souvenirs und Eisenbah nfahrten verkaufen willst.«
Er lachte und strich sich mit den Fi ngern lässig durch das strohblonde Haar. »Ich arbeite hier nicht. Ich passe nur auf, dass niemand etwas stiehlt, weil der Inhaber nach Uppsala zu einem Termin fahren musste. Er ist der Vater von Lisa, meiner Süßen. Mir ist es piepegal, ob jemand etwas kauft oder nicht. Mitten in der Woche verirrt sich eh nur sehr selten ein Tourist hierher.«
Amelie ging zu einem der Regale und nahm einen Bildband mit Fotos der Umgebung heraus. Sie blätterte durch die Seiten. Die Fotos waren in drei verschiedenen Sprachen beschriftet und zeigten typische Wahrzeichen und Ausflugsziele der Provinz Uppsala. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, nichts Neues daraus lernen zu können, stellte sie das Buch zurück.
»Wolltest du mich nicht etwas fragen?« Der junge Mann warf ihr einen neckischen Blick zu und zwinkerte. Amelie war er
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