Herzen aus Asche
vielleicht. Aber weshalb willst du es wissen?« Mikael lehnte sich im Stuhl zurück und strich sich durch den stoppeligen Bart. Sowohl er als auch Sara sahen Amelie an, als zweifelten sie an ihrem Verstand.
»Ich habe neulich zwei dieser Zeichen bei jemandem gesehen. Ich bin nur neugierig.« Ihr Blick zuckte zwischen ihren Freunden hin und her. »Herrgott, hört doch auf, mich so anzusehen! Ich bin als Studentin der Kunstgeschichte eben einfach an so etwas interessiert.«
»Diese Epoche kommt im nächsten Semester aber ganz sicher nicht dran«, sagte Sara.
»Darf ich kein privates Interesse daran hegen?« Allmählich spürte Amelie, wie Zorn in ihr aufstieg, und das war ihrem Tonfall deutlich zu entnehmen.
Sara knurrte, hievte sich von der Tischplatte und kramte in einer Kommode im hinteren Teil des Konf erenzraums. Dann kehrte sie mit einem Notizblock und einem Kugelschreiber zurück, der sündhaft teuer aussah. Sie legte beides vor Amelie auf den Tisch. »Dann zeig mal, was dich interessiert.«
Amelie malte die beiden Symbole auf, das Dreieck und das unvollständige E. Zum Glück bestanden Runen aus nur wenigen, einfach zu merkenden Strichen. Sie schob Mikael den Block zu.
»Das Dreieck mit der nach rechts zeigenden Spitze ist die dritte Rune im Alphabet. Man weist ihr die Bedeutung Kraft zu. Sie stellt einen Dorn dar, und der dazugehörige Runenvers lautet: Drängt mich die Not zu hemmen Hassgegner, mach ich stumpf den Stahl der Feinde . Der anderen Rune wird die Bedeutung Vater zugeschrieben, allerdings sind die beiden Querstriche normalerweise nicht gerade, sondern beschreiben einen Halbbogen nach oben. Wenn du im Internet nach Runen suchst, wirst du ohnehin mehrere Schreibweisen und Bedeutungen finden. Wenn du mich fragst, hat der Zeichner dieser beiden Runen eindeutig etwas gegen seinen Erzeuger.« Mikael lachte, aber Amelie konnte ihre Mundwinkel nicht einmal mehr dazu überreden, sich zu einem Lächeln zu verziehen. Sara lachte ebenfalls, nur Jarik blieb stumm und verzog keine Miene.
»Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sich der my steriöse Verfasser überhaupt etwas dabei gedacht hat, bei wem auch immer du die Runen gesehen haben willst.« Mikael streckte sich und gähnte herzhaft. »Die Wikinger und deren Glaube scheinen seit einiger Zeit wieder in Mode gekommen zu sein. Schade für die, die sich wirklich dafür interessieren. Mittlerweile wird man nur noch belächelt, wenn man mit solchen Kettenanhängern herumläuft.«
»Ich danke dir trotzdem für deine Hilfe.«
»Wenn es dich so sehr interessiert, kann ich dir gerne ein wenig Literatur zu dem Thema vorbeibringen.« Mikael zwinkerte ihr zu. Amelie nickte bloß. Sie hörte seine Worte kaum noch, denn in ihrem Kopf überschlugen sich bereits die Gedanken.
Der Rest des Abends verstrich wie in Trance, sie half Sara und den anderen noch dabei, die gröbsten Spuren der Party zu beseitigen, das Geschirr in die Küche zu bringen und den Tisch abzuwischen. Als sie zu Mikael ins Auto stieg, war sie bereits so müde, dass sie kaum die Augen offen halten konnte.
***
Fantasievolle Bilder aus buntem Tonkarton, übergroße gelbe, mit Fingerfarben gemalte Blumen und aus Glanzpapier gefaltete Schmetterlinge bedeckten die riesigen quadratischen Scheiben fast vollständig. Das Gebäude erweckte den Eindruck einer spießbürgerlichen Grundschule aus der Vorstadt, dabei befand es sich im Zentrum von Uppsala, umgeben von mehrspurigen Straßen und eintönig grauen Mehrparteienhäusern. Das ehemalige Kinderheim St. Franziskus hingegen erstrahlte in leuchtendem Gelb, was es Amelie vereinfacht hatte, es inmitten der umliegenden Betonklötze ausfindig zu machen. Es war umgeben von einem gepflasterten Hof, durch den hohen Zaun erspähte Amelie einen Basketballplatz und ein Klettergerüst.
Das Haus hatte drei Stockwerke, das frisch gedeckte Dach glänzte in dunklem Grau. Amelie vernahm durch Mauern gedämpftes Kinderlachen. Alles in allem schien das Jugendzentrum, in das man das Kinderheim vor etwa zehn Jahren umgebaut hatte, ein Ort zu sein, an dem man seine Kinder in guten Händen wähnte. Amelie hatte aus dem Internet erfahren, dass seit über einem Jahrzehnt keine Kinder mehr hier schliefen. Man hatte das Heim nach Stockholm verlegt. Allerdings bot die Stadt nach wie vor ambulante Hilfe an, hier bekamen bedürftige Kinder eine warme Mahlzeit und ein großes Angebot an Freizeitgestaltungsmöglichkeiten. Amelie hoffte, dass sich einige Mitarbeiter vielleicht
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