Herzen aus Asche
dennoch an die alten Zeiten des St. Franziskus erinnerten und ihr zumindest die Auskunft erteilen konnten, ob Loan Hellström tatsächlich seine Kindheit hier verbracht hatte. Allerdings machte Amelie sich diesbezüglich keine großen Hoffnungen.
Sie fühlte sich schwach und wie erschlagen, denn sie hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen. Immer wi eder hatten sich ihre Gedanken um die seltsamen Runen gedreht, die sie in Olof Hellströms Badezimmer vorgefunden hatte. Die Zeichen für »Kraft« und »Vater« ... War es tatsächlich möglich, dass Loan dahintersteckte? Immerhin hatte sein Vater in seinem Tagebuch erwähnt, dass er ein schwieriges Kind gewesen sei ... Als wäre diese schockierende Vorahnung nicht bereits schlimm genug, plagte Amelie zudem ein schlechtes Gewissen, weil sie noch immer nicht zur Polizei gegangen war. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr ängstigte sie sich vor diesem Schritt. Es würde definitiv Fragen aufwerfen, wenn sie erst Tage später einen Leichenfund meldete. Sie hatte den richtigen Zeitpunkt verpasst durch ihre Hasenherzigkeit. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie den Schritt niemals gehen würde, egal, wie sehr sie ihr Gewissen plagte. Verdammt! Weshalb hatte sie sich bloß in die Geschichte hineinziehen lassen?
Sie schluckte, drängte ihre Gedanken an die Seite und betätigte die Klingel neben der gläsernen Tür des Ei ngangsportals. Einige Zeit verging, und Amelie verspürte den Drang, auf dem Absatz kehrt zu machen. Doch dann erschien eine Frau hinter der Tür und öffnete.
»Ja bitte? Sie kommen außerhalb der Anmeldezeiten. Oder möchten Sie ein Kind aus dem Gymnastikkurs abholen?« Die Dame war schon etwas älter, Amelie schätzte sie auf sechzig Jahre. Ihr Haar war kurz g eschnitten und ergraut, ihr Kleidungsstil altmodisch. Sie verströmte einen unangenehmen Geruch nach einem herben Parfum.
»Nein, ich möchte niemanden abholen. Ich möchte mit einem Mitarbeiter sprechen. Wenn es gerade nicht passt, kann ich später wiederkommen.« Amelies Rücken schmerzte, weil sie stocksteif stand, die Hände vor dem Körper gefaltet, als sänge sie im Kirchenchor.
»Möchten Sie einen bestimmten Mitarbeiter sprechen? Momentan bin nur ich da.«
»Ich kenne keinen Ihrer Kollegen, deshalb ist es mir egal, mit wem ich spreche.«
Die Dame musterte Amelie von oben bis unten, stieß dann ein kurzes Knurren aus und bat sie herein. »Ich heiße Katarina Sjöberg, und wie ist Ihr werter Name?«
Amelie überlegte einen Moment, ob sie die Wahrheit sagen sollte. Lisa Hellström hatte sie ihren echten Namen verraten, und bereute es nun bitter. Andererseits war es kein Verbrechen, in einer Jugendeinrichtung um Inform ationen zu bitten. Sie glaubte nicht, dass Frau Sjöberg je von der Polizei dazu befragt werden würde, wenn Lisa sich noch an Amelies Namen erinnern sollte und man die Leiche in nächster Zeit fand.
»Ich bin Amelie Ivarsson.«
Sie reichten sich die Hände. Frau Sjöberg nickte höflich, aber Amelie konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass sie sie in ihrer Mittagspause gestört hatte oder sie ihr aus einem anderen Grund lästig erschien.
»Folgen Sie mir bitte ins Büro. Ich möchte auf dem Flur nichts besprechen.« Sie drehte sich um und Amelie folgte ihr eine Treppe hinauf in einen hellgrün gestrich enen Flur. Ihre Schritte hallten über den kiefernfarbenen Laminatboden. Das Kinderlachen wurde lauter.
»Die meisten Räume entlang dieses Flurs sind leer
oder dienen nur noch als Abstellkammer«, kommentierte die Dame Amelies Gedankengang. Man merkte ihr die Verbitterung deutlich an. »Seit hier keine Kinder mehr dauerhaft leben, steht das halbe Gebäude leer.«
Amelie erwiderte nichts darauf. Frau Sjöberg öffnete eine Tür am Ende des Flurs und bat Amelie herein. D ahinter befand sich ein nüchtern eingerichtetes Bürozimmer, wie Amelie es in einer Jungendeinrichtung nicht erwartet hätte. Der einzige Farbklecks war eine gelbe Orchidee auf der Fensterbank. Ein akkurat aufgeräumter Schreibtisch stand in der Mitte des Raums, davor ein mit Leder bezogener Metallstuhl, wie man ihn aus Arztpraxen kannte. Frau Sjöberg bedeutete ihr mit einer Geste, dass sie sich setzen sollte. Sie selbst nahm auf einem dunklen Drehstuhl hinter dem Schreibtisch Platz. An den Wänden standen hohe Regale, vollgestopft mit Aktenordnern. Es roch nach Papier und Tinte.
Frau Sjöberg lehnte sich im Stuhl nach vorne und le gte die Hände auf die Tischplatte. Amelie kam sich
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