Herzen aus Asche
Stuhl hin und her. Sie sorgte sich um Leif und wollte diesen Ort so schnell wie möglich verlassen, doch eine letzte Frage brannte ihr noch auf der Seele. »Weißt du, wo man nach der Formel suchen könnte?«
Sjadvir bedachte sie über den Rand seines Bechers hinweg mit einem finsteren Blick. »Denk nicht einmal daran, Täubchen. Du musst Leif vergessen, das hat keine Zukunft! Es kann dir niemand versprechen, dass du U nsterblichkeit durch die Verbindung mit ihm erlangst. Wahrscheinlicher ist, dass du daran zugrunde gehen wirst.«
Für den Moment verschlug es Amelie die Sprache, denn an diese Option hatte sie überhaupt noch nicht gedacht. Die Formel für sich selbst benutzen, um auf ewig mit Leif zusammen bleiben zu können? Kein una ngenehmer Gedanke.
Sie glaubte nicht, noch weitere Information aus Sja dvir herauspressen zu können, denn der Nordmann funkelte sie derart böse an, dass sie sogar zweifelte, dass er ihr dabei helfen würde, ins Diesseits zurückzukehren. Vielleicht hatte sie es mit ihrer Fragerei zu weit getrieben.
»Ich verspreche, dass ich nichts in dieser Richtung b eabsichtige. Ich habe dich all diese Sachen aus anderen Gründen gefragt.« Sie berührte ihn noch einmal am Arm. Seine Miene hellte sich ein wenig auf.
»Das möchte ich auch für dich hoffen«, knurrte er. »Nur gut, dass niemand sicher weiß, ob es noch eine Abschrift gibt und wo diese zu finden sei. Viele Geister haben sich der Suche nach der Formel verschrieben, so groß ist ihr Verlangen nach dem Leben.« Er schüttelte den Kopf. Sein abfälliger To nfall ließ keinen Zweifel darüber offen, wie sehr ihn das Verhalten seiner Artgenossen anwiderte.
»Kannst du mich jetzt bitte zurückbringen?«, fragte Amelie. »Ich möchte nach Hause.«
»Ja, das kann ich. Und das muss ich sogar, wenn wir nicht riskieren wollen, dass du deinen Verstand verlierst.« Er seufzte. »Obwohl ich mich über dauerhafte Gesellschaft freuen würde. Ich muss zugeben, Leif seine Seherin zu neiden.«
Er stand von seinem Stuhl auf und legte seine Hände auf Amelies Schultern. Sie ließ ihn gewähren, obwohl ihr seine Nähe unangenehm war.
»Du gehörst nicht hierher. Geh und lebe dein Leben.«
Sie wollte etwas erwidern, kam jedoch nicht mehr d azu. Er gab ihr einen kräftigen Stoß, sodass ihr Stuhl nach hinten kippte. Unwillkürlich stieß sie einen Schrei aus, weil sie den Sturz nicht abfangen konnte. Gerade, als sie damit rechnete, hart auf dem Boden aufzuschlagen, riss sie die Augen auf und erwachte auf ihrem Bett. Sekunden verstrichen, ehe sie sich darüber bewusst wurde, dass sie das Jenseits wieder verlassen hatte. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand mit einem Ruck die Eingeweide herausgerissen. Alles drehte sich. Nur langsam schärfte sich das Bild vor ihren Augen. Stuck an der Decke, Spinnweben in der Ecke, Samtvorhänge über dem Bett. Sie lag auf dem Rücken. Sie fuhr hoch, doch der Schwindel zwang sie dazu, sich wieder hinzulegen. Ihr Magen rebellierte und nur mit Mühe konnte sie den Brechreiz unterdrücken.
»Leif, wo bist du? Bist du hier?« Sie wollte nach ihm rufen, aber ihrer Kehle entwich nur ein heiseres Kräc hzen. Sie versuchte sich selbst zu beruhigen. Was konnte ihm schon geschehen sein? Immerhin war er bereits tot. Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis es ihr besser ging. Ihr Körper verlangte nach Aufmerksamkeit, alles tat ihr weh. Das Fehlen von Schmerz in der Zwischenwelt schien ihr die Wahrnehmung ihrer Vitalfunktionen nur noch deutlicher vor Augen zu führen. Ihr Herz hämmerte kräftig, ihre Hände waren schweißnass.
Jäh überfiel sie eine bleierne Müdigkeit , als hätte sie starke Medikamente genommen. Gegen ihren Willen sank sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Knapp entkommen
Als Amelie die Augen aufschlug, erfüllte helles Tage slicht ihr Zimmer. Wie lange hatte sie geschlafen? Zumindest war der Schwindel verflogen, und auch sonst fühlte sie sich nicht schlechter als an anderen Morgen, wenn sie erwachte. Im Gegenteil, sie fühlte sich seit langem wieder einmal ausgeschlafen. Sie reckte sich und drehte sich auf die andere Seite. Dort saß Leif auf der Bettkante und sah mit einem milden Lächeln auf sie hinab. Träumte sie etwa immer noch?
»Ich dachte, du würdest gar nicht mehr wach we rden«, sagte er. »Ich hatte schon Sorge, du hättest Schaden genommen.«
Langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Ein so nderbarer Ort, Meer, Sand, eine Hütte ... Und Sjadvir, der alte Wikinger.
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