Herzen aus Asche
war, sie hatte nicht einmal etwas davon mitbekommen. Sie schälte sich schwerfällig aus der warmen Decke, gähnte und streckte sich. Sie torkelte schlaftrunken zum Schreibtisch. Die goldene Armbanduhr, die neben ihrem Geschichtsbuch lag, verriet ihr, dass es gerade erst sieben Uhr morgens war. Amelie nahm sie auf und drehte sie zwischen den Fingern. Sie hatte die Uhr von ihrer Mutter im letzten Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen, eine echte Antiquität. Sie stammte aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, zarte Kettenglieder mit Knebelverschluss bildeten das Armband. Amelie trug die Uhr nur zu besonderen Anlässen. Sie legte sie zurück auf den Tisch. Sie ging zum Fenster herüber und spähte hinaus. Dunkelgraue Wolken schoben sich über das Land und es war noch nicht einmal richtig hell. Kein schöner Tag für einen Sonntagsausflug, aber sie würde nicht umhin kommen, den Weg anzutreten. Der Gedanke, tatenlos zuhause zu sitzen und nichts zu tun, wäre unerträglich gewesen. Jäh schoben sich die Erinnerungen an den Vortag in ihr Bewusstsein. Ein kaltes Schaudern packte sie. Sie wünschte sich, Leif könnte sie begleiten, aber sie würde den Weg ganz alleine antreten müssen. Er konnte ihr nicht helfen.
Amelie streifte sich die zerknitterte Kleidung ab. Sie hatte am Abend nicht einmal ihren Pyjama angezogen. Ihre Mutter hätte ihr dafür vermutlich eine Ohrfeige verpasst.
Sie nahm eine saubere schwarze Le ggings und einen grünen Pullover, der ihr bis über den Hintern reichte, aus dem Kleiderschrank, dazu einen Slip, einen BH und saubere Socken. Nackt ging Amelie ins Badezimmer im Erdgeschoss. Endlich richtig duschen! Ihre Haare waren verfilzt und hatten einen unschönen fettigen Glanz angenommen.
Sie nahm sich viel Zeit unter der Dusche. Es fühlte sich an, als würde sie die Sorgen von ihrer Haut waschen. Sie zwang sich, nicht an die unangenehme Aufgabe zu denken, die noch vor ihr lag.
Als sie sich abgetrocknet und ang ekleidet hatte, aß sie die letzten beiden Scheiben Käse aus dem Kühlschrank und den Rest eines angebissenen Schokoriegels. Weder ein gesundes, noch ein sättigendes Frühstück, aber etwas anderes würde ihr für den Moment nicht übrig bleiben. Sie hätte sich auf dem Weg nach Alt-Uppsala gerne in einer Bäckerei etwas Schmackhafteres zu essen gekauft, aber sowohl der größte Teil ihres Bargelds als auch ihre EC-Karte lagen auf dem Grund des Sees. Sie nahm sich vor, den Verlust alsbald der Bank zu melden, aber momentan hatte sie weder die Möglichkeit noch die Zeit dazu.
Es befanden sich noch ein paar Kronen auf dem Schlüsselbrett vor der Tür, gerade genug für die Busfahrt. Selbst, wenn Amelie sich dazu hätte überwinden können, sie hätte nicht einmal die Mittel gehabt, ihre Mutter anzurufen und sie um Geld zu bitten - das Handy war ebenfalls verloren.
Amelie nahm die Münzen und den Schlüssel vom Brett, streifte ihre - mittlerweile getrocknete - Jacke über und zog die Tür hinter sich zu. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging sie den Weg zur Bushaltestelle entlang. Heute würde sie die Abkürzung am See entlang meiden, zu schrecklich waren ihre Erinnerungen an die Erlebnisse vom Vortag.
Auf den Straßen war zu dieser frühen Stunde kaum jemand unterwegs. Die Rollläden der an die Bundesstr aße grenzenden Häuser waren alle herabgelassen, sonntags schliefen die meisten Leute um diese Uhrzeit noch. Amelie wartete fast eine halbe Stunde auf den Bus nach Uppsala. Sie war der einzige Fahrgast. In der Innenstadt stieg sie um, auch der Fahrgastraum des Busses, der sie in die Altstadt brachte, war menschenleer. Der Fahrer zog die Augenbrauen hoch, als Amelie ihr Ticket löste und ihm sagte, sie wolle bis zu den historischen Grabfeldern fahren. Sie war sich sicher, dass der Mann sich in diesem Moment die Frage stellte, weshalb jemand um viertel nach acht am Morgen dorthin fahren wollte. Der Großteil der Touristen würde erst am Nachmittag anmarschieren. Die Gottesdienste, die in der Kirche zwischen den Hügelgräbern abgehalten wurden, fanden auch nicht vor zehn Uhr vormittags statt. Amelie hatte jedoch genau das beabsichtigt - sich allein dort umsehen zu können, ohne die Blicke von neugierigen Besuchern aus aller Welt, die sich in stocksteifen Posen vor den Gräbern und der Kirche fotografierten.
Die Fahrt dauerte länger, als sie erwartet hätte. Erst eine halbe Stunde später erreichte der Bus seine Endhaltestelle. Amelie stieg aus und fand sich mutterseelenallein
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