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Herzen aus Asche

Herzen aus Asche

Titel: Herzen aus Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narcia Kensing
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vor einem weiten, kargen Stück Land wieder. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie vermutet, irgendwo in einer unbewohnten Grassteppe mitten in Russland gelandet zu sein. Nur ein Wegweiser aus Holz, der auf die historischen Gräber hinwies und einen ausgetretenen Trampelpfad als Weg dorthin kennzeichnete, ließ darauf schließen, dass sie die richtige Haltestelle erwischt hatte. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, war sie noch ein Kind gewesen, das im Rahmen eines obligatorischen Schulausflugs über die Grabfelder gejagt wurde. Sie hatte die Gegend weniger einsam in Erinnerung behalten. Der Eindruck täuschte ohnehin, denn nur wenige hundert Meter weiter südlich tobte das Stadtleben von Alt-Uppsala. Das Land, auf dem sich die Kirche und die alten Gräber befanden, stand unter Naturschutz und stellte einen grünen Fleck im Stadtplan, umgeben von Wohnsiedlungen und Einkaufstraßen, dar.
    Amelie ging den Pfad entlang, der sich durch eine leicht hügelige Landschaft wand. Das Gras war zu be iden Seiten kurz, braun und struppig, Büsche oder Bäume gab es nicht. Wenn es regnete, würde der Weg sicherlich verschlammt und pfützenreich sein, doch zum Glück war es ein trockener, wenn auch grauer Tag. Hinter der ersten Biegung, die sich um eine Erhebung wand, tauchten sie jäh vor ihr auf - die drei Hügelgräber, ein jedes mit einem Durchmesser von über fünfzig und einer Höhe von etwa acht Metern. Sie reihten sich in regelmäßigen Abständen direkt nebeneinander auf. Amelie konnte sich nicht erklären, weshalb Jahr für Jahr tausende Menschen hierher pilgerten, um sich drei unscheinbare Grashügel anzusehen. Sie wusste, dass es in deren Inneren längst nichts Geheimnisvolles mehr zu entdecken gab. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte es ausgedehnte Ausgrabungen gegeben, bei denen man außer kremierten Toten und einigen persönlichen Gegenständen aus dem ersten Jahrtausend nichts gefunden hatte. Es glaubte auch niemand wirklich daran, dass es sich dabei um die Gräber von Odin, Thor und Freya handelte. Als viel wahrscheinlicher galt, dass die alten Schwedenkönige des Geschlechts der Ynglinger hier ihre letzten Ruhestätten gefunden hatten.
    Hinter den Gräbern sah Amelie das Dach der alten Kirche emporragen. Auch um dieses Gebäude rank ten sich Mythen, so soll sie auf dem Fundament eines heidnischen Wikingertempels erbaut worden sein. Die Kirche war Amelies Ziel, dort würde sie überprüfen, ob es hinter dem Altar tatsächlich einen Schlitz in der Mauerwand gab, der eine alte Runentafel hätte beherbergen können. Amelie war beseelt von dem Gedanken herauszufinden, ob einer ihrer Freunde tatsächlich hinter dem Spuk stecken konnte und vielleicht - unwissentlich - Loans Geist ins Diesseits zurückgeholt hatte.
    Sie schluckte ihre Sorgen hinunter und ging weiter den Pfad entlang. Aus irgendeinem Grund hatte sie die Kirche größer in Erinnerung, vielleicht deshalb, weil sie noch ein Kind gewesen war, als die das letzte Mal davor gestanden hatte. Es war ein schmuckloses Gebäude, drei Stockwerke hoch und mit steil zulaufendem Dach. Es gab keine aufwändigen Mosaike aus Buntglas, auch keinen hübschen Glockenturm. Nur drei kleine Fenster mit Rundbogen durchbrachen die graue, aus unregelmäßig geformten und gefärbten Natursteinen gemauerte Außenwand. Amelie hatte selten eine unscheinbarere Kirche gesehen. Rings herum verlief eine kniehohe Mauer aus locker aufgeschichteten Gesteinsbrocken. Das sollte einmal das Fundament eines Tempels gewesen sein? Wäre sie als Tourist von weit hergekommen, um sich die Gräber und die Kirche anzusehen, hätte sie sich vermutlich geärgert. Es gab in der Umgebung nicht einmal einen Kiosk oder eine Imbissbude, nichts, das auf Massentourismus hinwies, und dennoch fand man den Ort in jedem anständigen Reiseführer unter der »Das-müssen-Sie-gesehen-haben-Rubrik«.
    Amelie ging durch ein kleines Tor in der Mauer und steuerte auf die Stirnseite der Kirche zu. Eine dunkelbraune Holztür ohne jeden Schnickschnack kennzeichnete den Haupteingang. Daneben hing auf Augenhöhe eine gusseiserne Gedenktafel. Demnach hatte es im Jahre 1240 gebrannt, woraufhin man Teile des Gebäudes neu aufgebaut hatte.
    Sie drückte die schwere Metallklinke herunter und betrat den dahinterliege nden Raum. Es war sehr kühl, eine Gästehaut überzog ihre Arme. Ihre Augen benötigten einige Sekunden, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen, denn durch die schmalen

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