Herzen aus Asche
Rundbogenfenster fiel nur wenig Licht.
Der Innenraum war erwartungsgemäß schlicht, außer dem gekreuzigten Chri stus aus Stein in Überlebensgröße, der hinter dem Altar hing, gab es nahezu gar keine Dekorationsgegenstände, geschweigedenn eine prunkvolle Orgel. Die Wände waren weiß, die Sitzbänke aus Eichenholz. Sie muteten schrecklich unbequem an. Auf einem Tisch an der Wand brannten Teelichte, daneben ein Sammelbehälter für Geldmünzen und davor ein Pult, auf dem ein aufgeschlagenes großes Buch mit dunklem Einband lag. Amelie fühlte sich unwohl. Sie hatte selten eine Kirche betreten, und die andächtige Atmosphäre hatte ihr schon immer Unbehagen bereitet. Sie ging auf den Altar zu, ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Es war vollkommen still.
Die Wand an der Kopfseite der Kirche war die einz ige, die nicht verputzt und gestrichen war. Hier zeigte das nackte Gestein der Außenmaußer sein Gesicht. Amelie suchte die Wand nach Unregelmäßigkeiten oder Öffnungen ab, doch der Mörtel zwischen den Steinen schien unversehrt. Vielleicht hinter dem Jesuskreuz ...? Amelie kam sich wie eine Verbrecherin vor, als sie darauf zu ging, denn sie musste über eine Absperrung hinwegklettern, ein dickes gespanntes Seil, das die Touristen vermutlich genau von dem abhalten sollte, was Amelie gerade in Begriff war zu tun.
»Was machen Sie denn da? Sie dürfen nicht hinter die Absperrung! Was glauben Sie, weshalb jemand das Seil gespannt hat?«
Amelie fuhr ruckartig herum, das Herz rutschte ihr in die Hose. Sie hatte nicht bemerkt, dass hinter ihr noch jemand die Kirche betreten hatte. Ein großer beleibter Mann in einem schwarzen Talar mir weißem Chorhemd und Stehkragen stand im Gang des Mittelschiffs, unter seinem Arm klemmte ein großes dickes Buch.
Amelie verspürte im ersten Moment den Impuls, über das Seil zurück vor den Altar zu springen, doch hätte dies äußerst lächerlich angemutet, da der Pfarrer sie bereits gesehen hatte. Also blieb sie steif wie ein Stock an Ort und Stelle stehen. Ein Schweißtropfen rann ihre Wirbe lsäule hinab. Verdammt! Hätte der Pfaffe nicht noch ein paar Minuten mit etwas anderem beschäftigt sein können?
»Ich wollte mir das Kreuz aus der Nähe ansehen«, log sie. Sie stieg über die Absperrung hinweg - langsam, um sich ihre Scham nicht anmerken zu lassen.
»Er ist doch groß genug, um ihn auch von den Bänken aus sehen zu können. Was glauben Sie, was passieren würde, wenn jeder an der kostbaren Marmorskulptur herumgrabschen würde? Der empfindliche Stein würde sich durch den Schweiß an ihren Händen irgendwann auflösen.«
Amelie nickte brav, um sich einsichtig zu zeigen. Als erzählte er ihr irgendetwas Neues! An der Uni hatte sie oft mit wertvollen Marmorkunstwerken zu tun gehabt, und sie hatte in ihrem Leben unzählige Kunstausstellungen besucht.
»Es war nicht meine Absicht, etwas zu zerstören«, sagte sie kleinlaut.
»Dann wissen Sie es jetzt fürs nächste Mal. Ich muss allerdings zugeben, dass sie die erste sind, die Interesse an dem Kreuz zeigt. Die meisten interessieren sich für die Mauer dahinter. Sie ist die einzige Wand, die noch aus den Anfangszeiten des Gebäudes stammt, angeblich aus der Wikingerzeit. Das große Feuer im Mittelalter hat hier fast alles zerstört. Sie werden es kaum glauben, aber ich habe sogar schon einmal jemanden dabei erwischt, der einen Stein daraus entwenden wollte!«
Amelies Herz hämmerte heftig gegen ihre Rippen, ihr Mund wurde trocken. »Hat derjenige den Stein mitg enommen?«
Der Pfarrer zog verwundert die Augenbrauen hoch. Vermutlich fragte er sich, weshalb Amelie das wissen wollte. »Ja, leider! Ist einfach an mir vorbei gerannt, hat mich dabei sogar umgestoßen. Die Jugendlichen von heute sind einfach nur noch schrecklich. Sie müssen auf den rechten Pfad zurückgeführt werden.«
»Wie lange ist das her?« Amelie war es mit einem Mal völlig egal, ob der glatzköpfige Gottesdiener sie für verrückt hielt.
»So genau weiß ich das nicht mehr, mit Sicherheit schon zwei Jahre. Damals hat es die Absperrung noch nicht gegeben, aber wie ich sehe, nützt die wohl auch nicht viel.« Er warf Amelie einen tadelnden Blick zu.
»Wissen Sie noch, wie der Täter ausgesehen hat?«
»Wieso, kennen Sie ihn?« Er stieß einen Laut aus, halb Lachen, halb Schnauben. »Ich kann mich doch jetzt nicht mehr daran erinnern, zwei Jahre danach! Und ich glaube kaum, dass der Stein je wieder irgendwo auftauchen wird. Es war ein
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