Herzen im Feuer
weißhaarigen Mann unten an der Treppe sah, der ihn mit einem strahlenden Lächeln willkommen hieß. »Du hast dich kein bißchen verändert«, lachte er und eilte die große Treppe hinunter.
Tatsächlich, abgesehen von seinem weißen Haar sah Etienne Ferrare noch genauso aus wie bei ihrem letzten Treffen in Venedig vor fast zehn Jahren. Er war ein schlanker, mittelgroßer Mann, der eine Aura natürli- cher Eleganz ausstrahlte.
»Es tut gut, dich wiederzusehen«, bekundete Nicholas und schenkte dem Bruder seiner Mutter einen warmherzigen Blick.
Etienne sah seinen Neffen mit meerblauen Augen an, die Nicholas an seine Mutter erinnerten, und sagte: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich unter den Bildern deiner Vorfahren stehen zu sehen. Das hätte ich nicht mehr zu träumen gewagt.«
Nicholas schaute sich um. »Ich hätte selbst nicht gedacht, daß ich Beaumarais je wieder betreten würde.« Es klang fast wie ein Schwur, nie wieder wegzugehen.
»Hat Celeste dich schon gesehen?« fragte Etienne besorgt. »Ich fürchte, das wird sie sehr aufregen.«
»Das hat es bereits«, bestätigte Nicholas bedauernd, »denn gleich als sie mich sah, brach sie ohnmächtig in meinen Armen zusammen. Ich fürchte, ich erinnere sie allzusehr an meinen Vater.«
Etienne nickte verständnisvoll. »Ja, ich glaube, dein unerwartetes Auftauchen ist für sie ein Schock. Ich muß zugeben«, fügte er mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu, »auch ich bin extrem neugierig, was deine Rückkehr anbelangt. Vor allem in diesem Augenblick«, mur- melte er leise.
»Anscheinend hat mein Vater niemandem von dem Brief erzählt, in dem er mich bat, heimzukommen.«
Etienne konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Philippe hat dich gerufen? A-aber das kann ich gar nicht glauben. Verzeih mir,
Nicholas, aber in all den Jahren hat er deinen Namen nicht einmal erwähnt. Warum sollte er dich nach Hause rufen?«
»Weil er wollte, daß ich ihm vergebe, Etienne. Er hatte endlich die Wahrheit über Franqois' Tod herausgefunden«, erklärte ihm Nicholas schlicht.
Etienne dachte einen Augenblick darüber nach. Seine schlanken Finger umspielten den Knauf seines Stocks, mit dem er rhythmisch auf die Fliesen klopfte. »Und was ist die Wahrheit, wenn du die Neugier eines alten Mannes verzeihst?« wollte er schließlich wissen.
»Daß ich unschuldig bin oder daß ich François jedenfalls nicht erschossen habe. Daß ich dieses törichte Spiel mit ihm spielte... dessen bekenne ich mich schuldig. Aber ich habe ihn nicht getötet. Mein Vater wußte das. Er wußte, wer Franqois wirklich ermordet hat.«
Etiennes Stock kam plötzlich zum Stillstand.
»Aber er hat mir nicht verraten, wer es war. Er hinterließ ein Tage- buch, in dem er die ganze Geschichte niedergeschrieben hat«, sagte Nicholas und fügte mit gespielter Gleichgültigkeit hinzu: »Aber be- dauerlicherweise ist es verschwunden. Du hast es nicht zufällig gese- hen?«
Etienne schüttelte den Kopf. »Ein Tagebuch? Non, wirklich nicht«, antwortete er verwirrt, bevor er Nicholas ein flüchtiges, trauriges Lä- cheln schenkte. »Bitte vergib mir, Nicholas.«
»Vergeben? Warum denn?«
»Weil ich so schlecht von dir gedacht habe. Nein, ich dachte nicht, daß du deinen Bruder kaltblütig ermorden könntest, aber ich glaubte dennoch, daß deine Kugel ihn niedergestreckt hatte. Ich dachte, es wäre ein Unfall gewesen. Aber wenn das, was du sagst, wirklich wahr ist...«, murmelte er. Nicholas wußte, daß er zweifelte.
»Ich weiß, daß es schwer zu glauben ist, denn wenn ich wirklich unschuldig bin, dann ist ein anderer schuldig. Jemand, der mir die Schuld geben wollte. Wer würde so etwas tun und warum?«
Etienne sah seinem Neffen ins Gesicht. »Darauf weiß ich keine Antwort, Nicholas.«
»Ich auch nicht«, bestätigte Nicholas. »Noch nicht.«
»Jetzt komm, ich höre Stimmen und Porzellangeklapper im Salon«, schlug Etienne vor und ging auf die angelehnte Doppeltür zu. »Ich habe noch nie etwas gegen einen kleinen Aperitif einzuwenden gehabt. Es ist doch viel angenehmer, sich bei einem kleinen Gläschen zu unterhalten,
nicht wahr?« fragte er mit aufmunterndem Lächeln, öffnete die Tür zum Salon und wartete, bis Nicholas bei ihm war.
»Ach, Onkel Etienne«, empfing ihn Nicole, als sie ihn eintreten sah, »die Mademoiselle hier hat mir alles über die neueste Mode erzählt. Ich brauche unbedingt -« Sie verstummte abrupt, als sie bemerkte, in welcher Begleitung sich
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