Herzen in Flammen
lassen.
Diese Überlegungen hielten Kristen jedoch nicht davon ab, sich an das nächste Fenster zu schleichen. Kein Schrei ertönte, als sie ihre Beine über das Fenstersims schwang. Es war ein Anzeichen für ihre Niedergeschlagenheit, dass sie noch eine Zeitlang zögerte. Was ihr dann doch den letzten Anstoß gab, war ihr Stolz.
Der Mond war fast voll und badete den freien Platz vor dem Haus in seinem Lichtschein. Kristen landete auf den Füßen und sprang mit einem Satz wieder in den Schatten, den die Hauswand bot. Behutsam schlich sie sich zu der fensterlosen Hütte, in der die Männer schliefen.
Sie wünschte, es hätte geregnet, um die Sichtverhältnisse zu verschlechtern und die Laute ihrer Bewegungen zu übertönen. Doch am Himmel standen nur wenige Wolken, und sie waren weit von dem übermäßig hellen Mond entfernt. Das konnte sie nicht zurückhalten. Alle hielten sich im Haus auf und schliefen. Niemand konnte sie sehen.
Sie hatte sich schon überlegt, dass sie sich Pferde von der Weide holen würden, um nicht zuviel Lärm im Stall zu machen, aber jetzt stand sie vor einem ganz anderen, unerwarteten Problem. Sie sah einen Wächter vor der einzigen Tür der Hütte sitzen, in der die Gefangenen schliefen. Ihr Herz überschlug sich. Ob er wohl ihre Schritte vernommen hatte? Als sie kein Geräusch hörte, lugte sie noch einmal vorsichtig um die Ecke. Der Mann saß immer noch da und lehnte mit dem Rücken an der Tür. Der zurückgelegte Kopf war auf eine Seite gefallen. Plötzlich wurde ihr klar, dass er schlief. Der schlafende Wächter war kein großes Hindernis im Vergleich zu dem Problem, vor dem sie, wie sie wuss te, in Kürze stehen würde: Wie sollte sie die verschlossene Tür öffnen? Aber der Wächter konnte sich als ein Segen erweisen, wenn er den Schlüssel bei sich hatte.
Kristen hielt nach einem Stein Ausschau, der groß genug war, um den Kerl be wuss tlos zu schlagen. Sie hätte ihm statt dessen seinen Dolch vom Gürtel ziehen und ihn töten können, aber dazu konnte sie sich einfach nicht durchringen. Auf dem ganzen Platz lag kein Stein herum, der groß genug gewesen wäre, und als sie sich zu dem Wall geschlichen hatte, dauerte es lange, bis sie einen Stein gefunden hatte, der nicht gleich viel zu groß war. Schließlich fand sie, was sie gesucht hatte, und schlich sich ohne irgendwelche Zwischenfälle wieder dorthin zurück, wo der Wächter saß.
Ihr Puls schlug schneller, als sie sich ihm näherte. Falls er einen Laut von sich gab, wenn sie zuschlug, war es aus mit ihr. Wenn sie zu fest zuschlug ... Bei Gott, sie wollte ihm wirklich nichts antun, sondern nur dafür sorgen, dass er noch fester schlief.
Sie traf ihn dicht neben der Schläfe, und der Mann sackte zur Seite. Er atmete noch. Das reiche für den Moment aus, um Kristens Gewissen zu beschwichtigen, und sie durchsuchte ihn eilig nach dem Schlüssel. Damit hatte sie jedoch kein Glück. Sie muss te weitere Zeit damit vergeuden, das Schloss aufzubrechen, aber dieser nicht eingeplante Wächter hatte zumindest den Dolch, mit dem sie es versuchen konnte.
Sie machte sich eilig ans Werk und rief mit einer eindringlichen Stimme, die dennoch mehr als ein Flüstern war: »Ohthere, Thor ... «
Eine große Hand legte sich auf ihren Mund und brachte sie zum Schweigen, während eine weitere Hand das Handgelenk der Hand umklammerte, in der sie den Dolch hielt. »Laß ihn fallen. Und zwar sofort. «
Sie tat es und spürte das Grauen und die Freude zugleich, als sie diese Stimme erkannte. Er ließ ihr Handgelenk los, sowie der Dolch klappernd auf den Boden fiel, und dann schlang sich seine Hand um ihre Taille. Er hielt sie nicht allzu fest, aber sie wuss te, dass sein Arm sich fester um sie schließen würde, wenn sie sich wehrte.
Dann empfand sie nichts außer tiefer Reue, als sie Thorolf auf der anderen Seite der Türe hörte, die nach wie vor verschlossen war. Er hatte ihren leisen Ruf gehört. Er glaubte, sie sei gekommen, um ihnen zur Flucht zu verhelfen.
»Kristen? Antworte mir, Kristen. Sag, mir, dass ich es nicht geträumt habe. «
»Was sagt er?« flüsterte ihr Royce ins Ohr.
»Er weiß, dass ich es bin.«
»Dann sag ihm, was passiert ist. «
Sie schluckte schwer. Was war eigentlich passiert? Und wie war es dazu gekommen? Soweit war sie gekommen. Kein Schrei war zu hören gewesen. Und doch war ihr jemand in die Quere gekommen, und zwar der einzige Mann weit und breit, gegen den sie nicht ernstlich kämpfen konnte. Wenn es doch
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