Herzen in süßer Gefahr (German Edition)
führten sie zu dem Stückchen Land, das früher der Garten des Klosters gewesen war. Und dort fand sie sie. Abrupt blieb sie stehen und ließ den Blick über die vielen frisch aufgeworfenen Grabhügel gleiten. Der vorderste hob sich ein wenig von den anderen ab. Langsam ging Josette darauf zu. Nur der Wind war im stillen, trüben Grau des frühen Herbstmorgens zu hören. Lange Zeit stand sie reglos da, ohne sich der Kälte bewusst zu werden. Und zum ersten Mal fragte sie sich, ob ihr Vater nicht recht gehabt hatte und Capitaine Dammartin nicht doch ein Mann von Ehre war.
Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, Josette Mallington aufzuspüren. Mehrere Männer hatten sie ins Kloster gehen sehen. Keinem von ihnen war es in den Sinn gekommen, sich ihr in den Weg zu stellen. Einige wussten, dass sie die Tochter des englischen Lieutenant Colonel war. Andere glaubten, genau wie die Wachmänner, dass sie jetzt zum Capitaine gehörte. Das Missverständnis ärgerte Dammartin fast so sehr wie ihr Entkommen.
Er fand sie vor dem Grab ihres Vaters kniend.
Dammartin blieb neben dem Stall stehen und beobachtete sie. Sie hatte das Haar zu einem unordentlichen Zopf geflochten und den Kopf gesenkt, als betete sie. Da sie kein Schultertuch trug, konnte er sehen, dass sie eine hübsche, schlanke Figur besaß. Sie musste erbärmlich frieren in dieser Kälte. Es widerstrebte ihm, sie in ihrer Trauer zu stören, denn er wusste, was es hieß, den Vater zu verlieren. Also stand er weiterhin da, ohne auf sich aufmerksam zu machen und ohne ein einziges Mal den Blick von Josette Mallington zu nehmen.
Josette spürte Dammartins Anwesenheit fast vom ersten Moment seines Erscheinens an, aber sie erhob sich nicht. Wahrscheinlich würde sie nie wieder an diesen Ort zurückkehren, und sie wollte sich von ihrem Vater und seinen Männern auf die einzige Weise verabschieden, die in ihrer Macht lag. Davon würde sie sich auch von dem französischen Capitaine nicht abhalten lassen. Erst als sie fertig war, stand sie auf. Nach einem letzten Blick auf die Gräber wandte sie sich um und ging auf Capitaine Dammartin zu.
Sie blieb wenige Schritte vor ihm stehen, und im frühen Morgenlicht sah sie, dass sein Haar dunkelbraun war und seine Haut selbst jetzt noch einen Rest von der Sonnenbräune des Sommers behalten hatte. Dammartins Gesichtszüge waren regelmäßig, sein Mund hart und schmal, die Nase gerade. Im Hellen konnte man die Narbe auf seiner linken Wangen nicht übersehen. Sie verlieh ihm etwas Düsteres, Brütendes, das so manchen einschüchtern musste.
„Mademoiselle Mallington“, sagte er, und ihr fiel auf, dass seine Augen nicht schwarz waren, wie sie gestern Abend geglaubt hatte, sondern von einem satten, honigfarbenen Braun.
„Capitaine Dammartin“, erwiderte sie, und nach einem Blick auf die Gräber fügte sie kühl, aber höflich hinzu: „Danke.“
Er neigte leicht den Kopf.
„Nach dem, was Sie gestern sagten, glaubte ich nicht …“ Sie brach ab.
„Ich hatte in jedem Fall die Absicht, die Männer zu begraben. Sie haben wie Helden gekämpft und verdienten ein ehrenvolles Begräbnis. Wir Franzosen respektieren Tapferkeit.“ Der spöttische Ton in seiner Stimme deutete an, dass die Engländer es an diesem Respekt mangeln ließen.
Josette zog es vor, nichts darauf zu erwidern. „Was haben Sie mit mir vor?“
„Sie sind Lieutenant Colonel Mallingtons Tochter“, antwortete er, und ihr schien, als würde seine Miene noch düsterer. „Sie werden zum Lager General Massenas bei Santarém gebracht, wo man Sie gegen einen französischen Kriegsgefangenen austauschen wird.“
Sie nickte.
„Ich versichere Ihnen, im Gegensatz zu anderen machen wir es uns nicht zur Gewohnheit, die Regeln ehrenhafter Kriegsführung zu brechen.“
Seine Bitterkeit wunderte Josette. Er musste sie wirklich verabscheuen, wenn er einen solchen Ton anschlug. „Das freut mich zu hören, Sir.“
Das Achselzucken, mit dem er ihr antwortete, konnte alles und nichts bedeuten. „Wenn Sie etwas essen wollen, beeilen Sie sich damit. Wir ziehen in weniger als einer Stunde weiter und Sie noch eher, da Sie in Begleitung von Lieutenant Molyneux reisen werden.“
Seite an Seite, jedoch ohne ein weiteres Wort zu wechseln, gingen Josette Mallington und Pierre Dammartin zum französischen Lager zurück.
„Was hast du eigentlich mit deiner Taktik bezweckt, Pierre?“, verlangte Commandant La Roque zu wissen.
Dammartin sah seinem Vorgesetzten ruhig ins Gesicht.
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