Herzensach - Roman
vermittelte dem Studenten den Eindruck, als hätte der wahrscheinlich adelige Erbauer allen Grund gehabt, sich wehren und verteidigen zu müssen.
Jakob Finn überlegte, ob er die Dorfstraße weiter auswärts in Richtung Weinstein gehen sollte. Es waren noch einige Häuser zu sehen. Dahinter lagen rechter Hand die Ausläufer des Waldes, dort mußte das Forstamt sein. Doch den Förster wollte er lieber erst am Nachmittag besuchen oder, wenn die Fahrt zur Weinsteiner Werkstatt zuviel Zeit in Anspruch nahm, am nächsten Tag. Auch Trivial hatte sich schon für die andere Richtung entschieden. Der Student folgte ihm, ging zurück in Richtung Kirche. Der Hund kreuzte abermals achtlos die Straße. (Es war bis jetzt noch kein Wagen durch das Dorf gefahren.) Auf der anderen Seite lag die Tischlerei, aus deren Werkstatt das Geräusch einer Kreissäge drang. Der Hund blieb vor den Bürofenstern sitzen und wartete auf Jakob. Die Gardinen waren zurückgezogen, und im ersten Moment erkannte er das Mädchen am Schreibtisch gar nicht. Er war schon vorbei, ging noch einmal zurück, legte die Hände an die Scheibe. Es war Katharina mit zurückgebundenem Haar und einer weißen, hochgeschlossenen Bluse mit bunten Stickereien am Kragen. Das Aschenputtel hatte sich in eine strenge Schönheit verwandelt. Sie blickte auf und runzelte unwirsch die Stirn über ihren Beobachter. Er winkte, aber sie reagierte nicht, sondern blickte wieder in die Akten. Im Hintergrund bewegte sich eine Tür, jemand sah durch den Spalt ins Büro.
Trivial hatte sich unter das Fenster gesetzt. Jakob strich ihm zum ersten Mal vorsichtig über den Kopf, kraulte ihn. (Sprangen Hundeflöhe auch auf Menschen?) Als er weiterging zu dem kleinen Laden, blieb der Hund sitzen.
Das Geschäft der Frau des Wirtes war recht unauffällig in das alte Fachwerkhaus eingebaut worden. Nur der Fahrradständer mit der Zigarettenwerbung, das Lottoschild und die Eistafel kennzeichneten es. Die kleinen Schaufenster waren in die durch die Holzbalken vorgegebenen Zwischenräume eingepaßt worden. Er entdeckte in der Auslage einen schmalen, rot gebundenen Band mit dem Titel Das Herz von Herzensach. Als Autor war Pfarrer Rudolf Pedus angegeben. Er betrat das Geschäft im selben Moment, als Karin, die dicke Wirtstochter, es mit einem Lolly im Mund und einer Zeitschrift unter dem Arm verließ. Sie grinste ihn an, sagte: »Öde hier, was?« und war schon an ihm vorbei. Die Frau des Wirts lehnte rechts auf einer weißen Theke und las in einer Tageszeitung. Sie blickte nicht auf, grüßte nicht. Links im Raum standen drei Reihen Regale wie in einem kleinen Supermarkt. Er ging zwischen zwei Regalen mit Konserven, Schreibwaren und Putzmitteln hindurch, bevor er zur Theke zurückkam. Sie sah auf, lächelte spöttisch. Sie wußte schon, wer er war.
»Nichts gefunden?«
Er war überrascht. Im Gegensatz zu ihrem etwas aufgedunsenen Mann war sie eine herbe, magere Schönheit; das beinahe Kantige an ihr wurde durch einen Kurzhaarschnitt betont, der ihr Haar nach allen Seiten abstehen ließ. Ihre blauen Augen leuchteten belustigt.
»Ich hätte gern das Buch von Pastor Pedus.«
»Der wird sich freuen. Wieder mal ein Käufer.« Sie holte ein Exemplar aus einem Regal hinter sich.
»Verkauft es sich nicht?«
»Na, wer soll es denn kaufen?«
»Touristen, denen es hier gefällt.«
»Gibt's hier nicht. Die fahren alle durch, wenn überhaupt. Vierzig Kilometer weiter finden die bessere Bedingungen.«
»Versteh ich nicht. Mir gefällt es hier.«
»Na, dann haben wir ja einen dritten Befürworter. Sie sollten sich mit meinem Mann und dem Wurstfabrikanten zusammentun und einen Tourismusverein gründen. Auch eine Art zu sterben.«
»Der Wurstfabrikant?«
»Sagen Sie bloß, Sie haben Willi Webers Bungalow nicht gesehen?«
»Ach, der mit den griechischen Säulen. Ja, seltsam. Das Gutshaus gefällt mir besser.«
»Das gehört den van Gruntens. Jan ist jetzt Gutsherr und hält nicht viel vom Tourismus, sagt es bloß nicht. Sein Vater hat sich als Rentner nach Mallorca zurückgezogen – ist also Tourist geworden. Das sagt ja eigentlich alles, also daß er es hier nicht so toll findet.«
»Und Sie?«
»Bißchen mehr Leben hier wäre schlecht fürs Leben hier und gut fürs Geschäft.«
Jakob gefiel die Frau. Kritischen Witz hatte er in diesem verschlafenen Ort nicht erwartet. Er zahlte die Broschüre, ging hinaus. Der Hund saß wartend vor dem Geschäft und blinzelte ihn an, als wäre alles sein
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