Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
zuckte die Schultern. »Hier, dort, was macht das schon für einen Unterschied? Sie sind gekommen, um mich aufzuhalten. Das haben Sie geschafft. Sie haben mich erwischt. Damit endet alles. Ich wünschte, ich könnte enttäuscht darüber sein, doch in mir herrscht nur Leere. Im Grunde bin ich schon seit vielen Jahren tot.«
Sie drang einfach nicht zu ihm durch. »Wenn Sie jetzt mitkommen, kann Ihnen geholfen werden. Ich kann Ihnen keine Wunder versprechen, doch man wird Sie nicht einfach in eine Zelle stecken. Experten werden sich um Sie kümmern. Sie könnten mit ihnen gemeinsam die Erfolge erzielen, auf die Sie bisher vergeblich warten.«
Drach zeigte erneut sein lebloses Lächeln. »Er hatte absolut recht. Er sagte mir, dass Sie mir diesen Mist erzählen würden, sollten Sie mich kriegen.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
Drach antwortete nicht. Er starrte auf seine Füße und dann auf die Eisfläche. »Wenn Sie recht hätten, dürfte ich keine Wut über Ihre Lügen empfinden, nicht wahr? Aber ich bin wütend … Sehr wütend sogar.« Er lachte mit Tränen in den Augen. »Alles verloren. Sie haben mir alles genommen.«
Er hob den Kopf. Sein Blick bohrte sich förmlich durch sie hindurch. »Es gibt keine Rettung. Weder für mich noch für Sie.« Dann begann er mit dem rechten Fuß kräftig auf das Eis zu stampfen.
Oliver hatte Selina Fiedler den Rettungssanitätern übergeben. Der Schnitt über ihrem Brustbein war tief, hatte aber keine Organe verletzt. Sie stand unter dem Einfluss irgendeines Medikaments oder einer Droge, weshalb sie zwar noch bei Bewusstsein, aber nicht ansprechbar war. Sie war unterkühlt und hatte viel Blut verloren. Doch sie würde es schaffen.
Die eintreffenden Polizisten hatten ihm nur grob die Richtung gewiesen. Er hatte sich durch den Wald geschlagen und sich am Blaulicht und den Sirenen orientiert. Er schien schon eine Ewigkeit gerannt zu sein, als sich die Wand aus Baumstämmen endlich lichtete, und er auf die Böschung hinaustrat.
Der See war umstellt. Es waren nicht genug Polizisten, um eine wirklich sichere Barriere zu bilden, doch sie hatten den Fliehenden erfolgreich in der Mitte der Eisfläche gestellt. Jennifer hielt ihn mit vorgehaltener Pistole in Schach. Niemand rührte sich.
Oliver legte die wenigen Meter zurück, die ihn von dem nächsten Beamten trennten. Er wollte ihn gerade fragen, warum sie tatenlos herumstanden und nicht endlich nach unten gingen, um den Kerl zu überwältigen und der Sache ein Ende zu bereiten, als sein Blick auf die gelben Warnschilder fiel.
Betreten der Eisfläche verboten! Lebensgefahr!
Sein Puls, der wegen des Spurts ohnehin schon raste, beschleunigte sich noch weiter.
Er sah sich um. Wo steckte Möhring? Wer leitete diesen Einsatz?
Oliver versuchte sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen, als er den Polizisten ansprach. »Gibt es irgendeine Strategie?«
Der Mann sah ihn nur kurz aus den Augenwinkeln an, bevor er sich wieder auf die beiden Personen auf dem See konzentrierte. »Wir haben strikte Anweisung, das Eis nicht zu betreten. Feuerwehr ist unterwegs.« Er zögerte, bevor er hinzufügte: »Dieser See friert wegen der Strömung nicht richtig zu. Es ist ein Wunder, dass die beiden noch nicht eingebrochen sind.«
»Scheiße.«
Seit Wochen herrschten eisige Temperaturen, das Wasser war entsprechend kalt. Wenn Jennifer einbrach, würde sie einen Schock erleiden, der es ihr unmöglich machen würde, sich über Wasser zu halten. Die Strömung konnte sie unter die Eisfläche ziehen. Selbst wenn die Feuerwehr dann schon vor Ort wäre, würden wertvolle Minuten verstreichen, bis Jennifer geborgen werden konnte.
Sie mussten sie von diesem verdammten See runterholen. Sie musste doch wissen, in welcher Lage sie sich befand. Drach konnte nicht mehr fliehen, er schien unbewaffnet zu sein. Warum zog sie sich nicht zurück und brachte sich in Sicherheit?
Sie redete mit Drach, und es sah tatsächlich so aus, als wollte sie ihn zur Aufgabe bewegen. Der Typ konnte die ganze Nacht auf dem Eis festsitzen und darüber nachdenken, was er tun sollte, wenn ihm danach war. Sie konnte bleiben, zusehen, per Megaphon mit ihm verhandeln, wenn sie wollte, nur eben vom sicheren Ufer aus!
Oliver zog sein Handy, wählte ihre Nummer und erhielt sofort die Ansage, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen sei. Ihm fiel ein, dass sie ihr Smartphone ausgeschaltet hatte. Wieso schaltete sie es nicht wieder ein? Warum kam sie nicht einfach vom Eis runter?
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