Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
»Verdammte Scheiße!«
Oliver begann unruhig am Ufer hin und her zu gehen. Das Eis knirschte leise. In seinen Ohren klang es wie das Klirren einer zerspringenden Glasscheibe.
Jennifer sprach noch immer mit Drach. Oliver konnte den Gesichtsausdruck des Mannes nicht sehen, dennoch war er sich absolut sicher, dass sie ihren Atem verschwendete.
Die Sekunden schlichen dahin. »Herrgott, Jennifer, komm schon …«
Plötzlich fing Drach an, mit dem Fuß auf die dünne Eisschicht zu stampfen.
Jennifer wich unsicher zwei Schritte zurück. Noch hielt das Eis. Aber noch immer trat sie nicht die Flucht an.
Das Aufstampfen wurde stärker.
Dann fiel ein Schuss.
Drachs Knie wurde von der abgefeuerten Kugel in einem roten Regen zerschmettert. Er heulte schmerzerfüllt auf, während sein Bein einknickte und sein anderer Fuß auf dem glatten Untergrund wegrutschte. Schwer schlug er auf der Eisfläche auf.
Das Knistern vereinzelter Sprünge verwandelte sich in das Krachen zerberstenden Eises.
Oliver hörte sich selbst Jennifers Namen schreien, als die gesamte Oberfläche des Sees in Bewegung geriet. Bedrohlich wankend kämpfte sie um ihr Gleichgewicht, während sich das Eis unter Drachs liegendem Körper zu einem dunklen Schlund öffnete.
Endlich rannte sie los.
Während Drach mit einem Klatschen im eisigen Wasser landete, lief Jennifer über die brechende und sich verschiebende Eisfläche. Der Boden unter ihren Füßen schwankte, die Platten konnten ihr Gewicht nicht mehr tragen, versanken im Wasser oder gerieten in Schräglage.
Das sichere Ufer kam näher, und als sie endgültig den Halt zu verlieren drohte, sprang Jennifer. Es waren nur noch wenige Meter bis zur Böschung, doch die Entfernung war zu groß.
Noch bevor sie realisierte, dass sie durch das Eis gebrochen war, umgaben sie lähmende Kälte und Dunkelheit. Sie strampelte wild mit den Füßen, versuchte verzweifelt, sich an die Oberfläche zurückzukämpfen, doch über ihr schien sich das Eis auf magische Weise geschlossen zu haben. Ihre Kleidung hatte sich binnen Sekunden mit Wasser vollgesogen, und die Last drohte sie nach unten zu ziehen. Ihre Gegenwehr schien vollkommen zwecklos.
Dann berührten ihre Finger kalten Schlick. Der See war an dieser Stelle nicht mehr sehr tief. Sie rammte ihre Füße in den Boden und stemmte sich nach oben, dem wenigen Licht entgegen.
In dem Moment spürte sie auch schon Hände, die sie packten und an die Oberfläche zerrten.
Jennifer saß mit mehreren Decken um die Schultern im geöffneten Kofferraum eines Polizeiautos und biss die Zähne aufeinander, um das Zittern ihrer Kinnpartie zu unterdrücken. Ihre nasse Kleidung war teilweise gefroren, ebenso ihre Haare, die steif zu beiden Seiten ihres Gesichts klebten. Die Wärme des Tees, den ihr ein Sanitäter in die Hand gedrückt hatte, tat ihr an den Fingern schon beinahe weh.
Wenn es nach dem Arzt gegangen wäre, der sie vor einer halben Stunde begutachtet hatte, wäre sie längst in Richtung Klinik unterwegs. Er war der Meinung, sie müsse sich wegen Unterkühlung behandeln lassen, sie hatte sich jedoch geweigert, den Schauplatz zu verlassen, bevor Jürgen Drach geborgen worden war. Nachdem der Arzt ihre Vitalfunktionen überprüft hatte, hatte er sich widerwillig damit einverstanden erklärt, sie zurückzulassen.
Jennifer wusste, dass ihr Kreislauf jeden Augenblick zusammenbrechen konnte, doch sie musste sicher sein, dass sie Drach tatsächlich fanden – tot oder lebendig.
Dafür hatte sie sogar Möhrings Vortrag stumm über sich ergehen lassen, in dem er ihr eigenmächtiges Handeln gerügt hatte. Letztlich hatte er ihr die Schulter gedrückt und »Gute Arbeit« gemurmelt. Er musste natürlich anerkennen, dass Selina Fiedler jetzt tot auf dem Friedhof sitzen würde, wenn Jennifer und Grohmann nicht ihrer gemeinsamen Eingebung gefolgt wären.
Als endlich Bewegung an der Uferböschung entstand, sah sie sich schon nicht mehr in der Lage, aufzustehen und den Leuten entgegenzugehen. Professor Meurer und sein Assistent betraten als Erste die Lichtung, auf der Streifen- und Feuerwehrwagen standen, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie Drach gefunden hatten.
Die Taucher der Feuerwehr hatten seinen Leichnam geborgen. Nach einer Dreiviertelstunde war auch nicht mehr damit zu rechnen gewesen, dass sie ihn lebend aus dem Wasser fischen würden.
Vier Männer trugen die Bahre zum Leichenwagen. Er stand direkt neben dem Auto, dessen Kofferraum Jennifer sich nicht umsonst zum
Weitere Kostenlose Bücher