Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
deine Mom plötzlich fort war?“
„Waisenhaus“, antwortete sie knapp.
Es gab Begriffe und Einrichtungen in der Oberwelt, mit denen Dagan wenig anfangen konnte. Er überlegte, wie er ihren Tonfall deuten sollte.
„Es ist nicht ganz so, wie man es sich im Allgemeinen vorstellt“, fuhr Roxy fort. „Im Grunde war es weder gut noch richtig schlecht. Ich bin nicht geschlagen worden, und mich hat niemand unsittlich berührt oder so. Es waren einfach nur desinteressierte und überforderte Erwachsene, die sich um zu viele Kinder auf zu engem Raum kümmern mussten. Es gab nicht genug Kleidung, nie genug zu essen und so weiter und so weiter.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Klischee, ich weiß. Am schlimmsten war, dass man nie allein sein konnte und doch immer allein war. Mutterseelenallein.“
Sie sah ihn mit ihren Tigeraugen an, und Dagan merkte, dass sie etwas in seinem Blick suchte. Er wusste nur nicht, was es war. Wie sieht sie mich? fragte er sich und fühlte sichauf eine ihm gänzlich ungewohnte Art ausgeliefert. „Mutterseelenallein war ich auch“, erwiderte er undeutlich. „Nur dass um mich herum überhaupt niemand gewesen ist.“
„Und deine Mutter?“
„Ich kenne sie gar nicht.“ Sutekh hatte ihn als Baby der Frau weggenommen, die seine Mutter war. Nachdem er ihr ein zweites Kind gemacht hatte: Alastor. Dagan hatte nie erfahren, ob seine Mutter ihr Kind je vermisst oder ihm nachgetrauert hatte. Er wusste nicht einmal, ob sie die wahre Identität seines Vaters gekannt hatte. Ob sie gewusst hatte, in welcher Welt zu leben ihnen bestimmt war? In den dreihundert Jahren seiner Existenz hatte sich Dagan darüber nicht gerade den Kopf zerbrochen. Wozu auch? Antworten würde er eh nie erhalten. Seine Mutter war jetzt seit knapp dreihundert Jahren tot, denn sie war kurz nach Alastors Geburt gestorben.
All das wollte er Roxy nicht erzählen. Doch als er in ihre bernsteinfarbenen, grünlich schimmernden Augen sah und daran dachte, wie freimütig sie ihm aus ihrem Leben erzählt hatte, kam es ihm schäbig vor, ihr im Gegenzug gar nichts anzubieten. „Mein Vater hat mich von Zeit zu Zeit besucht“, sagte er schließlich.
Roxy nickte und sah ihn geduldig an. Als ihr das Schweigen offenbar zu lange dauerte, fragte sie nach: „Und deine Brüder?“
Versonnen streichelte Dagan ihren Fuß, dann ihre Wade. Er genoss es, ihre glatte, geschmeidige Haut zu berühren. Schließlich beugte er sich vor und zog mit der Zungenspitze eine Spur aus Küssen ihren Knöchel hinauf und das Knie entlang. Er wollte noch weiter.
„Halt“, rief sie, rückte von ihm ab und sah ihn tadelnd an. „Ich hatte nach deinen Brüdern gefragt.“
„Wir sind … nicht zusammen aufgewachsen. Ich habe sie zum ersten Mal gesehen, als wir schon erwachsen waren.“
Erstaunt runzelte sie die Stirn. „Wie viele Brüder hast du?“
Drei, wollte er unwillkürlich antworten. Es war wie ein Stich ins Herz. „Zwei. Ursprünglich waren wir zu dritt, aber Lokan ist tot.“
„Es tut mir leid“, sagte sie leise. „Und das meine ich wirklich so.“ Es war offensichtlich, dass sie noch etwas hinzufügen wollte. Doch Dagan legte ihr den Finger auf die Lippen.
Gerade dieses Thema wollte er nicht vertiefen. Denn Roxy gehörte nach wie vor zur Isisgarde. Und er konnte nicht beurteilen, was für sie mehr zählte, wenn es darauf ankam: er oder ihre Pflicht. Wäre sie tatsächlich imstande wegzusehen, wenn er Lokans Spur weiterverfolgte, um seine Überreste zu finden und ihn wieder ins Leben zurückzuholen? Oder würde sie die Suche sabotieren, wie vermutlich ihr Auftrag lautete? Wie sollte er sich in dem Fall ihr gegenüber verhalten?
Über all das wollte Dagan nicht nachdenken. Nicht solange er ihren Geschmack noch auf den Lippen hatte, sie noch zu spüren glaubte, obwohl sie einander nicht berührten. Er wollte ihr wieder nah sein, ganz nah, sie an sich pressen, ihr leises und ihr lautes Stöhnen hören, sie schmecken und riechen. Im Augenblick interessierten ihn die Geheimnisse der Isis nicht. Nein, was er erfahren wollte, waren Roxys intimste Geheimnisse und ihre Wünsche. Er wollte alles über sie wissen.
„Warst du lange in dem … Waisenhaus?“, fragte er.
„Ich bin in ein paar Familien herumgereicht worden. Mit elf bin ich zu einem Ehepaar gekommen, das wirklich gut zu mir war. Sie hatten nicht viel, aber sie hatten beide ein großes Herz. Sie arbeiteten unvorstellbar hart und schickten von dem wenigen Geld, das sie dabei
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