Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
verdienten, immer noch etwas an Verwandte in Haiti. Dadurch, dass sie so viel gearbeitet haben, war ich auch viel allein. Aber ein Jahr später haben sie ein weiteres Kind angenommen. Ab da hatte ich Gesellschaft und war nicht mehr einsam.“ Einen Moment lang starrte Roxy mit leeren Blick vor sich hin, bevor sie die Lippen aufeinander presste und hinzufügte: „Eine Zeit lang jedenfalls.“
„Was meinst du damit, eine Zeit lang ?“
Dagan merkte sofort, dass sie ein Thema streiften, das Roxy tief berührte. Von einer Sekunde auf die andere wirkte sie angespannt und wie auf dem Sprung. So als wollte sie davonlaufen. Er richtete sich auf und setzte sich so vor sie, dass er sie festhalten konnte, sollte sie aufspringen. Die Beine streckte Dagan links und rechts von ihr aus und winkelte die Knie leicht an.
Sie nahm all ihre Kraft zusammen und brauchte mehrere Anläufe, bis es ihr gelang fortzufahren. „Ich glaube, der qualvollste Tod ist zu verbrennen. Und genau das ist meinen Pflegeeltern passiert. Wir haben in Valleyview Village gewohnt, in einer Bungalow-Siedlung, alles Sozialbauten, aber nicht so schlimm wie die meisten. Als ich eines Abends vom Sport nach Hause gekommen bin, stand der ganze Block in Flammen. Die meisten konnten sich aus den Häusern retten, aber nicht alle. Und meine Pflegeeltern gehörten zu denen, die es nicht geschafft haben. Es war ihr erster gemeinsamer freier Abend seit Wochen. Und sie sind unter dem einstürzenden Dach begraben worden.“
Roxy hielt kurz inne. Ihr Blick war leer, ihre Stimme tonlos. „Rhianna, meine Stiefschwester, ist dem Inferno entkommen, sie trug aber schwerste Verbrennungen davon. Sie war furchtbar entstellt. Das Schlimmste aber war danach die Behandlung im Krankenhaus, bei der die verbrannte Haut in Bädern abgeschrubbt worden war. Ein paar Zehen wurden ihr amputiert, dann der ganze Fuß. An der rechten Hand hatte sie drei Finger verloren. Ich bin zur Abendschule gegangen und habe anschließend in einer Tankstelle Nachtschichten geschoben, um tagsüber bei Rhianna zu sein. Ichglaube, ich habe ein halbes Jahr lang keine Nacht länger als drei oder vier Stunden geschlafen.“
Roxy nahm Dagans Hände. Als sie ihn anschaute, erkannte sie, dass er mit ihr fühlte. Sie hätte nicht gedacht, dass ihre Geschichte ihm so nahegehen könnte.
„Sie hat mich gebeten, sie zu töten, um ihr weitere Qualen zu ersparen. Jeden Tag war ich bei ihr, und jeden verdammten Tag hat sie mich darum angefleht, ihr das Kissen aufs Gesicht zu drücken, damit sie endlich ihren Frieden finden konnte. Ich habe ihr immer gut zugeredet und auch geglaubt, dass es mit ihr wieder bergauf geht. Nach einer Weile trat auch eine gewisse Besserung ein. Aber das Üble bei Verbrennungen ist, dass die Opfer selbst nach Monaten noch nicht annähernd aus dem Gröbsten heraus sind. Die größte Gefahr droht durch Infektionen. Und so eine bekam Rhianna auch. Sie ist daran gestorben. Aus, Ende der Geschichte.“
Es war nicht die ganze Geschichte.
„Komm, erzähl mir auch noch den Rest“, bat er Roxy mit sanfter Stimme.
Sie hielt den Blick gesenkt und ließ sich das lange Haar ins Gesicht fallen, um sich dahinter zu verstecken. Aber Dagan legte zärtlich die Hände an ihre Wangen und hob ihren Kopf an, sodass sie sich in die Augen sah. Ihre Züge waren schmerzverzerrt.
„Erzähl mir alles“, bat er sie noch einmal.
Roxy räusperte sich. Sie konnte nur noch flüstern. „Eines Tages stand ich neben ihrem Bett und habe tatsächlich das Kissen genommen. Rhianna hat mich angesehen. Sie hatte ein so hübsches Gesicht und so wundervolle Augen. Sie hatte am ganzen Körper Verbrennungen, aber ihr Gesicht war verschont geblieben. Sie rührte sich nicht, sie lächelte sogar. Es sah so aus, als wäre sie wirklich glücklich, dass ich es tun wollte. Sie wollte nicht mehr leben.“
„Du hast sie erlöst“, sagte Dagan ruhig.
Tränen schossen Roxy in die Augen und liefen ihr im nächsten Augenblick die Wangen herunter. „Ich habe es nicht getan“, erwiderte sie. „Heute hätte ich es bestimmt gemacht, aber damals habe ich es nicht fertiggebracht. Ich weiß es selbst nicht. Habe ich sie zu wenig geliebt? Habe ich mir noch Hoffnungen gemacht, dass es ihr bald besser gehen würde? War ich zu egoistisch, weil ich nicht noch einen Menschen verlieren wollte? Wie auch immer – ich habe das Kissen wieder hingelegt, obwohl Rhianna heftig protestiert hat. Stumpf und kraftlos habe ich mich zu ihr ans Bett gesetzt
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