Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
reagierte, hatte sie sein Kommen genauso wenig bemerkt wie Roxy. Jetzt erinnerte Roxy sich daran, was ihre Mentorin ihr einmal über Seelensammler gesagt hatte: Du kannst sie weder sehen noch hören noch riechen. Du bemerkst ihre Anwesenheit erst, wenn sie da sind – und auch das nur, wenn sie es wollen.
„Sagte ich nicht, dass ich mich mit Calliope unterhalten wollte?“, beschwerte Roxy sich.
„Du hast gesagt, du brauchst fünf Minuten, und die sind um.“
„Außerdem nervt es, wenn du so herumschleichst. Du kannst einen wenigstens warnen, wenn du kommst.“
„Ich bin da. Das ist Warnung genug, oder?“
Calliope schaute während dieses Wortwechsels entgeistert von einem zum anderen. „Was soll das heißen: mit dem Tode gerungen ?“, wollte sie von Dagan wissen. Es kostete sie sichtlich Überwindung, mit ihm zu sprechen.
Roxy sah Dagan an. Sie wollte nicht, dass er antwortete. Alles, was in den letzten drei Tagen und Nächten geschehen war, wie Dagan sie mit seinem Blut aufgepäppelt und sie sich geliebt hatten, ging Roxys Meinung nach niemanden außer ihnen beiden etwas an. Vor allem hatte sie die vampirische Neigung die Jahre hindurch sorgsam vor allen versteckt. Dagan erwiderte ihren Blick und schwieg.
Schließlich erklärte Roxy beschwichtigend: „Wir wollennicht übertreiben. Ich war verletzt, und er hat sich um mich gekümmert. Ich lag bestimmt nicht im Sterben. Oder sehe ich so aus?“
„Du hast versucht, ihr das Herz herauszureißen“, zischte Calliope.
„Nein, ich nicht. Es war jemand anders.“
Noch immer kochend vor Wut, wandte Calliope sich an Roxy. „Ich habe die Narbe gesehen. Sie kann nicht erst drei Tage alt sein. Du bist erst neu unter den Isistöchtern. Eine solche Heilkraft kannst du noch gar nicht besitzen.“ Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Wenn das mit den drei Tagen stimmt, wie hast du das gemacht? Womit hat er dir geholfen? Du hast – bei Isis! – doch nicht etwa sein Blut getrunken?“ Ihr Blick fiel auf Dagan. Sie schien Bescheid zu wissen.
In Roxys Kopf drehte sich alles. Nicht nur im Kopf. Alles schien verkehrt und verdreht zu sein. Umgekrempelt – als trage sie die Haut innen und das rohe Fleisch außen. Sie versuchte ruhig zu bleiben, obwohl ihr Herz wie wild schlug und ihr Atem stockte. „Was … was weißt du von dem Blut?“
„Ausgezeichnete Frage“, schaltete Dagan sich ein. „Das würde mich auch sehr interessieren. Wieso ist sie so wild auf Blut? Ich meine, offensichtlich hat es ihr gutgetan. Jedenfalls ist dieses Loch in der Brust geheilt wie im Zeitraffer.“
Ruckartig drehte Roxy sich zu ihm um. „Das fragst du sie?“, rief sie fassungslos. „Wie kannst du so etwas fragen? Du hast mich doch zu einem verdammten Scheiß-Vampir gemacht!“
Dagan hob abwehrend die Hände. „Ich bestimmt nicht. Und das mit den Vampiren sind nur Ammenmärchen der Sterblichen, die damit nicht fertig werden, dass ihre Überreste irgendwann verwesen und ziemlich unansehnlich werden.“
Die Antwort brachte Roxy gänzlich aus der Fassung.Sie kam sich vor wie in einer bizarren Fernsehshow. Ratlos wandte sie sich wieder an Calliope. „Also, was hast du dazu zu sa gen?“
Calliope wirkte betroffen. Sie war blass geworden. Unwillig warf sie Dagan einen Blick zu, der deutlich machte, dass sie ihn jetzt gehen sehen wollte. Aber er dachte nicht daran, sondern stand, die Arme vor der Brust verschränkt, unverrückbar wie ein Fels da.
„Ich dachte, du wüsstest es“, begann sie zögernd und sah Roxy an. „Du warst schon gezeichnet, als du zu uns gekommen bist. Du hattest das Ankh auf dem Arm. Wie hätte ich ahnen sollen, dass du nichts davon gewusst hast!“
„Dass ich was nicht wusste? Wovon redest du überhaupt? Was meinst du mit gezeichnet ?“
„Die Isistöchter existierten schon immer aufgrund der Lebenskraft anderer. Es ist eine Gabe unserer Göttin Isis, die über die weibliche Linie vererbt wird und uns dadurch zu ihren Töchtern macht.“ Sie schwieg kurz. „Aber nicht alle verfügen darüber. Wegen unserer längeren Lebensdauer würde sonst das natürliche Gleichgewicht gestört.“
Längere Lebensdauer ? Natürliches Gleichgewicht ? Roxy schwirrte der Kopf. Und sie war wütend. Das war zu viel. Am liebsten hätte sie irgendetwas genommen und an die Wand geworfen. Alles, woran sie bisher geglaubt hatte, war falsch. Aber jetzt hieß es, sich auf eine Frage zu konzentrieren. „Aufgrund der Lebenskraft anderer?“, fragte sie nach.
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