Herzgefaengnis
Uhrzeit, um die erschrockene Menschen beiderlei Geschlechts aus fremden Betten krochen. Mir wurde bewusst, dass dies bereits die vierte Nacht war, die ich ohne Leo verbrachte. In einem Bett, das keinem von uns gehörte. Vier. Was, wenn daraus vierzig wurden – oder viertausend? Das wären mehr als zehn Jahre! Nein. Diesen Gedanken verbot ich mir.
Ich beschloss, mir strengste Gedankendisziplin aufzuerlegen. Wenigstens, solange ich hier war. Denn mein Schicksal wollte ich immer noch selbst bestimmen. Auch wenn ich im Moment so gut wie keinen Einfluss auf das hatte, was gerade geschah.
Ich bin unschuldig. Ich kann nichts dafür. Der wahre Täter wird in wenigen Tagen gefunden.
Wie ein Mantra sagte ich mir das gefühlte hundert Mal auf. Ich ballte meine Fäuste dazu und stellte mir eine schemenhafte Person vor, die von uniformierten Polizeibeamten abgeführt wurde. Es würde funktionieren. Über diesem Gedanken konnte ich sogar einschlafen.
Kein Tag war so leer und ereignislos wie dieser Sonntag. Notbesetzung überall. Das war im Gefängnis genauso wie im Gericht oder im Krankenhaus. Schon früher hatte ich diese gnadenlose Ereignislosigkeit gehasst. Eltern, die herumsaßen und Zeitung lasen. Geschlossene Geschäfte. Regen womöglich. Das Highlight: der „Tatort“. Oder, wenn man Pech hatte, die „Lindenstraße“. Und am nächsten Tag wieder früh aufstehen, um irgendeiner ungeliebten Tätigkeit nachzugehen. Zum Beispiel die Schule besuchen.
Was tut man, wenn man 23 Stunden lang auf sich allein gestellt ist? Beten? Gedichte aufsagen? Singen? Scheiße. Warum gab es hier keine Bücher? Keinen Fernseher? Wo, verdammt noch mal, war mein iPad? Ich sehnte mich nach Musik … viel zu viel Zeit für Gedanken. Gedanken, die ich nicht denken wollte. Ich fing an, nach Musik in meinem Kopf zu tanzen. Machte Liegestütze am Tisch. Tanzte langsamen Walzer mit dem einzigen Stuhl, den ich wie einen Tanzpartner umfasste. In der Tanzstunde hatten sie uns damit gerade Haltung trainieren lassen. Ich lief auf der Stelle, machte alle Gymnastikübungen, die mir einfielen. Nur, damit ich nicht denken musste. Nicht an ihn denken musste.
Doch nichts half. Immer wieder hörte ich seine Stimme, sah seine grün gesprenkelten Augen vor mir. Achte auf deine Gedanken. Vielleicht half es, an jemand anderen zu denken. Vielleicht an - meinen Verteidiger? Oh Scheiße. Ausgerechnet an ihn. Inzwischen wusste Dr. Krawczyk wahrscheinlich mehr über mich als Leo. Er hatte alles, was ich ihm erzählte, völlig gleichmütig aufgenommen. Nichts hatte ihn überrascht und nichts hatte ihn daran gehindert, mich trotzdem so verständnisvoll anzusehen. Als wenn alles, was ich erzählte oder tat, für ihn in Ordnung war.
Wie konnte Leo ihm solche Abneigung entgegenbringen? Lag es daran, dass er so liebenswürdig war? Wenn ich ihn mochte, taten das wahrscheinlich eine ganze Menge anderer Frauen auch. Und eine davon war vorher mit Leo zusammen gewesen. Wie mochte sie wohl sein, die Frau, die sich gegen Leo und für Dr. Krawczyk entschieden hatte? Ich konnte mir vorstellen, was ihr an meinem Anwalt gefiel. Er hatte Humor. Unter seiner zurückhaltenden Art verbarg er Warmherzigkeit. Die spürte man in jedem Satz, den er sagte, in jedem Blick, den er mir zuwarf. Es war so tröstlich, dass er sich für mich einsetzte. Egal, was Leo dazu sagte.
Ich hatte erwartet, dass der Montag etwas besser würde. Doch ich wurde enttäuscht. Ja, es gab hier auch Bücher. Aber keine, die mich reizten. Ja, ich konnte auch einen Fernseher haben. Aber der bürokratische Aufwand, das Ding hier reinzuschaffen, lohnte sich wahrscheinlich nur für Lebenslänglich. Also bat ich wenigstens um ein wenig Papier und einen Stift. Für alle Fälle.
Eine Sozialarbeiterin erklärte mir alles, was ich beantragen konnte. Es war nicht viel dabei, mit dem ich etwas hätte anfangen können. Wäschetausch? Telefonerlaubnis? Die Frau, die meine Zellentür auf- und zuschloss, sagte mir, dass morgen mein Verteidiger käme. Na toll. Der einzige Höhepunkt des Tages. Morgen wird vielleicht etwas passieren.
Die Leere in meinem Hirn schützte mich vor Verzweiflung. Nebenan schlugen Frauen an die Tür und schrieen aus Leibeskräften, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich schaute nur zum Fenster hinaus. In einen grauen Himmel. Ein Spatz hüpfte auf dem Fenstersims herum. Die Vorgängerin in dieser Zelle hatte offenbar eine kleine Fütterung mit ihm veranstaltet, denn er schien erwartungsvoll zu mir
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