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Herzgesteuert: Roman (German Edition)

Herzgesteuert: Roman (German Edition)

Titel: Herzgesteuert: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Er wirkt grau und verloren, ein heimatloses Bündel Mensch, und auf einmal sehe ich ihn mit Fannys Augen.
    »Du predigst immer, dass man sich um seine Mitmenschen kümmern muss«, höre ich ihre vorwurfsvolle Stimme. »Du sagst immer, dass wir niemanden ausschließen dürfen. Und in deinem Kirchenchor singst du fromme Lieder! Du sammelst Spenden für deine Charityprojekte und tust immer so hilfsbereit! Aber das BIST du nicht!«
    Ich komme mir entsetzlich schäbig vor.
    Er ist nicht irgendein Penner.
    Er hat ein Gesicht. Mit hinreißend schönen braunen Augen.
    Und eine Stimme.
    Und er hat Fanny in Mathe geholfen.
    Ohne ihn wäre sie sitzen geblieben.
    Quatsch. Mein Kind bleibt nicht sitzen.
    Jetzt ist aber Schluss mit den Gefühlsduseleien.
    Eine gescheiterte Existenz, mit der ich mich nicht länger abgeben werde!
    Du brauchst eine beste Freundin, Liebes. Aber keinen vollgekifften Emo. Vielleicht möchtest du lieber ins Internat? So wie bei Hanni und Nanni. Da ist es lustig, und da kommt kein Emo rein. Und Penner auch nicht, da sei Fräulein Theobald vor.
    Oder möchtest du ein Pferd?
    Fest entschlossen, mit meiner Tochter Fanny demnächst einmal Urlaub auf einem Reiterhof zu machen, fahre ich genau bis zum Ende des Parkplatzes.
    Dort bleibe ich stehen.
    Ich kann doch den Mann jetzt nicht … doch.
    Natürlich kannst du den Mann.
    Und der kann dich mal.
    Schlagartig reiße ich mich zusammen.
    »Juliane!«, rufe ich mich selbst zur Ordnung. »Du hast einen Termin!« Meine Stimme klingt hysterisch. »Der Prinz von Zamunda! Der Tennisspieler! Korzkamp!« Drei Kerle, mit denen ich es heute aufnehmen werde!
    Ich drücke aufs Gas.
    Dann bremse ich wieder.
    Der Wagen schlingert.
    Herrgott. Ich habe mich ja überhaupt nicht mehr unter Kontrolle.
    Völlig durcheinander wische ich mir mit dem Handrücken über das fleckige Gesicht. Ich schwitze und friere gleichzeitig.
    »Mama!«, höre ich Fannys Stimme. »Nimm ihn mit! Bitte !«
    »Spinnst du?«, schimpfe ich laut mit mir. »Bist du jetzt völlig durchgeknallt oder was?«
    Mitleid schnürt mir die Kehle zu. Er sieht so … verloren aus. Ich habe gesagt: »Sie kommen schon wieder heim.«
    Wie kaltschnäuzig von mir!
    »Heim!« Er hat doch gar kein Heim.
    »Das ist sein Problem«, höre ich mich mit Christianes Stimme sagen. »Wir geben uns nicht mit solchen Gestalten ab.«
    Im Rückspiegel sehe ich, wie er in die andere Richtung marschiert. Na also. Der geht jetzt über die Autobahn und hält auf der anderen Seite den Daumen raus. Seine graue Gestalt wird kleiner und kleiner.
    »Er geht weg«, rede ich mir ein. »Er verschwindet aus deinem Leben. Er sucht sich eine neue Parkbank. Und hoffentlich auch eine neue Stadt.«
    Ich fahre wieder fünf Meter und bin schon fast auf der Einfädelspur. Jetzt muss ich nur noch den Blinker setzen, Gas geben und dann …
    Mein Blick sucht den immer kleiner werdenden Punkt im Rückspiegel. Er sieht mutterseelenallein aus. Wie aus weiter Ferne höre ich immer noch seine sanfte Stimme an meinem Ohr: »Juliane, bitte beruhigen Sie sich! Ganz ruhig, Juliane! Es tut mir ja so leid!«
    Er war so … lieb! So … harmlos! So … menschlich! Er ist ein Mensch!
    Kein Lumpenbündel.
    Also Sankt Martin hätte den nicht einfach auf dem Autobahnparkplatz stehen lassen. Der hätte sein Pferd gewendet und seinen Mantel geteilt. Mit dem Schwert. Das war allerdings vor 1600 Jahren! Trotzdem feiert man den auch heute noch mit Laternen, Gebimmel und Rabamm. Vielleicht feiert man irgendwann die heilige Juliane, die einen hungernden, frierenden Bettler nicht an der Autobahn zwischen zwei Felsklüften ausgesetzt hat? Sondern ihn in die sichere Zivilisation zurückgebracht hat?
    Einer plötzlichen Eingebung folgend, lege ich den Rückwärtsgang ein.
     
    Der Penner schaut überrascht auf, als er mich kommen sieht. Damit hat er wohl nicht gerechnet.
    Ich bremse scharf neben ihm und lasse die Scheibe herunter: »Sie haben mir ja noch nicht mal gesagt, wie Sie heißen!« – Ja, wirklich. Jetzt kennen wir uns schon so lange, und uns verbindet fast so viel wie ein altes Ehepaar: Wir waren gemeinsam im Bad, ich habe für ihn gewaschen und gebügelt, er hat dafür mit meinem Kind Mathe gelernt, und wir haben uns schon richtig oft gestritten. Da kann man doch mal nach dem Namen fragen!
    Ich mustere die Fältchen um seine braunen Augen, den kräftigen Kiefer und die schon grau werdenden Bartstoppeln.
    »Georg«, bringt er schließlich heraus. Er reicht mir die Hand durch

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