Herzhämmern
überhaupt verstehe.
Sie weben ein seidenes Netz um mich, das mich hält. Dann kehrt mit Übermacht die Angst zurück. Denn Shelley lässt mich los und redet mit Ecke. Ein unkontrollierbares Zittern befällt mich. Und ein Drang, gegen den ich schon seit einer Weile ankämpfe.
»Ich mach mir in die Hose.« Meine Zähne klappern. »Hey, ich mach mir in die Hose!«
»Ich muss auch«, sagt Shelley ganz selbstverständlich. »Geh du zuerst, Martina. Ich leuchte nach hinten und drehe mich nicht um.«
Es ist mit dem Overall unglaublich schwierig. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich mir die Klamotten nicht irgendwie bepinkle, aber was spielt das für eine Rolle, so schmutzig, wie die schon sind. Es ist kein Paar sauberer Hände in der Höhle, das mir die Hose hochziehen und das Hemd hineinstopfen und den Pulli ordnen könnte. Beim Reißverschluss des Overalls muss Shelley mir allerdings helfen. Und das alles macht mir plötzlich nichts mehr aus. Seit ich über meinen Schatten gesprungen bin - zum zweiten Mal an diesem Tag und auf ganz andere Weise als beim ersten Mal -, seit ich meine Angst zugegeben habe, bin ich frei, als hätte ich einen Kokon von mir gesprengt. Ich mache mir schier in die Hose, ich zittere und klappere mit den Zähnen und bin der neuen Freiheit schutzlos ausgeliefert. Der Freiheit, zu meiner Angst zu stehen und zu tun, was nötig ist.
Shelley steigt in den Tunnel und stemmt sich hinüber, auf dem Wasser unter ihm schwimmt Bonnis Helm; er führt das Ende vom Seil mit und reicht es Ecke, der damit im Kamin verschwindet. Meine Füße kleben fest, während ich Shelley angstvoll beobachte. Er kehrt zu mir zurück. In einem komplizierten Knoten- und Schlingenwerk befestigt er das Seil um meinen Bauch und meine Beine und wickelt sich den Rest um den Arm. Er knurrt dabei wütend vor sich hin, dass er ein Idiot sei, weil er seinen Sitzgurt und seine Steigklemmen nicht mitgenommen habe.
Er küsst mich nicht mehr, ehe er mich in den Tunnel schickt, jetzt drängt die Zeit. Er hält das Seil fest. Ecke zieht am anderen Ende, während ich mich durch den Tunnel stemme, verzweifelt darauf bedacht, nicht abzurutschen und mit meinem ganzen Gewicht ins Seil zu fallen.
Ich schaffe es. Ich weiß nicht, ob ich es ohne Seilsicherung könnte, vermutlich würde ich allerspätestens am Schlitzauge abstürzen. Ecke zieht von drinnen, Shelley dirigiert mich von draußen, und dann bin ich glücklich im Kamin, wo Ecke mir beim Absteigen hilft.
Er richtet den Lichtkegel wortlos auf ein Jammerbild und klettert wieder hoch, um für Shelley zu leuchten. Bonni sitzt mit verzerrtem Gesicht am Boden und hat Schuh und Socke ausgezogen. Wenig später stehen wir zu dritt gebückt um ihn herum. Shelley, der gefragt hat, woher Ecke die Gewissheit nähme, dass der Knöchel gebrochen sei, verlangt keine Antwort mehr. Der Fuß ist bereits unförmig dick und hängt auf eine Weise an Bonni, die jedem deutlich macht, dass dieses Ding nicht mehr zu gebrauchen ist.
Wir lassen uns erschöpft nieder und knipsen die Lampen aus, um unsere Batterien zu schonen. Ecke hat Bonni im Arm. Shelley und ich sind getrennt, weil es kein weiteres Fleckchen gibt, wo zwei dicht nebeneinandersitzen könnten. In den Bodenvertiefungen lagert dicke Lehmpampe. Der Gang ist auch zu niedrig für aufrechtes Stehen.
Ich strecke meine Hand nach Shelley aus und er ergreift sie. Die Dunkelheit umgibt uns dicht und drohend; zusammen mit der dumpfen Luft nimmt sie mir den Atem. Shelley schließt seine Finger fest um meine Hand und schickt warme Impulse aus. Mehr Trost gibt es nicht. Ich richte mich innerlich auf eine lange Wartezeit ein. Es kommt mir vor, als sei ich schon seit Tagen und Nächten in diesem lichtlosen, bedrückenden Gewirr von Röhren und Räumen unterwegs und als hieße es nun ausharren, bis etwas oder jemand mich und die anderen durch ein Wunder an die Erdoberfläche bringen wird. Denn es ist nicht möglich, Bonni zu transportieren. Nicht ohne Hilfsmittel. Nicht ohne genügend Licht. Und ohne Männer, die sich beim Tragen abwechseln können. Und vor allem nicht ohne Kenntnis des Ausgangs. Ein umständliches Hervorkramen von Eckes Uhr zeigt, dass wir uns seit neun Stunden unter der Erde befinden. Der Sonntag, ein Sonnensonntag im Oktoberbunt, hat draußen stattgefunden, hat von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang aus vielen leuchtenden Stunden bestanden, die nun vorüber sind.
Darüber scheinen wir alle nachzudenken und man hört nur unsere
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