Herzhämmern
eine Hand braucht, um sich in einen Arm zu krallen. Der lang gezogene Schrei klingt, als führe Bonni in einem Zug hinab zum Erdmittelpunkt, und in mir ist nur ein Gedanke: Wenn der Schrei aufhört, ist Bonni tot.
Shelley ist auf dem Sprung, seinem gehetzten Blick nach ist er schon so gut wie drüben. Da greife ich noch fester zu, ich klammere mich an ihn und bringe ihn schier zu Fall. Er kommt zu sich und prescht nicht davon. Er schaut mich an und legt wortlos die Arme um mich - meine Angst hat Vorrang.
Als das Schreien in ein Gewimmer übergeht und wir endlich auch Eckes Stimme vernehmen, atmet Shelley tief ein. »O Mann, o Mann«, murmelt er.
Ich flüstere zurück: »Er lebt noch, ich höre ihn.«
Dann lauschen wir angespannt, und Shelley beginnt, mich zu wiegen, vielleicht ohne es zu merken. Meine Angst geht davon nicht weg, aber sie ist plötzlich wie in Watte gelagert. Ich schließe die Augen und fühle an Shelleys Hals seinen Herzschlag. Unsere Helme klackern mit einem hohlen Laut zusammen.
Ich flüstere: »Ich hab so eine wahnsinnige Angst.«
Noch nie zuvor habe ich meine Angst zugegeben. Sondern habe Ausreden gebraucht, bin zum Angriff übergegangen, wurde heftig bis ausfallend, gab allem anderen die Schuld, nur nicht meiner angeborenen Feigheit. Ich bemühte die Vernunft und berief mich auf meinen gesunden Menschenverstand, der mir angeblich dies und das einflüsterte, und gegen manche Mutbeweise hat es immer wunderbare Argumente gegeben. Skifahren zerstört die Berge, Fliegen die Ozonschicht, solche Dinge. In Wirklichkeit habe ich nur einfach Angst, auf zwei blöden Brettern einen Hang hinunterzufahren. Oder den Boden zu verlassen und machtlos in einem Flieger zu sitzen. Aber wenn man von Eltern abstammt, die die Tollkühnheit gepachtet haben, gibt man das nicht gern zu; und so hat kein Mensch jemals erfahren, wie es in mir drin wirklich aussieht und wie groß das Ausmaß meiner Feigheit ist.
Aber jetzt habe ich es gesagt. Wenn auch sehr leise. Ich weiß nicht, ob Shelley mein Geständnis gehört hat. Der Druck seiner Arme wird eine Spur stärker. Das ist alles.
Wie unter Zwang flüstere ich: »Eine Schande, dass ich so feige bin …«
Sekundenlang sind da nur die vermischten Stimmen von Bonni und Ecke, die zu uns dringen, ohne dass wir aber ein Wort verstehen könnten.
»Ich denke, dass du sehr mutig bist. Und übrigens habe ich auch Angst. Das ist doch normal«, murmelt Shelley.
Ich stemme mich aus seiner Umarmung, um ihn ungläubig anzuschauen. »Nicht dein Ernst?«
Shelley und Angst - nie im Leben! Er nicht und der verrückte Ecke auch nicht. Nur Bonni, ihm habe ich die nackte Angst angesehen.
»Doch. Und ich mache mir Vorwürfe, weil wir dich mitgenommen haben.«
Ich starre ihn an. Bonnis und Eckes Stimmen sind nur noch eine entfernte Geräuschkulisse für das, was hier passiert, zwischen Shelley und mir, als unsere Augen sich treffen und nicht mehr voneinander lassen wollen. Mein Herz hämmert, meine Knie werden weich, Shelley sieht mich an, er lächelt und wird wieder ernst und dann - küssen wir uns. Mit ganz schiefen Köpfen wegen der Helme. Ich schmecke Lehm. Meine Lippen sind kalt und spröde. Aber nicht lange. Shelley saugt sich an mir fest und ich mich an ihm, wir taumeln gegen die Wand, meine Lampe klirrt, geht aber nicht aus. Mein Helm verrutscht, der Kinnriemen schneidet ein, egal. Wir hören nicht auf, uns zu küssen.
Im Kamin brüllt Ecke nach Shelley, sein Kopf erscheint im Schlitzauge. Nicht dass ich das sehen könnte, meine Augen sind geschlossen. Ich höre es nur am Klang seiner Stimme. »Was macht ihr zwei da? Seid ihr durchgeknallt? Shelley, lass sofort die Frau los, ich brauche dich! Bonni hat sich den Knöchel gebrochen!«
Shelley und ich lösen uns voneinander. Ich komme zu mir wie von weit her. Shelley streichelt mit seinen Daumen meine schmutzigen Wangen. »Martina …«, flüstert er. »Alles okay? Wir schaffen es. Aber wir müssen weiter.« Er lässt Ecke in seinem Rücken brüllen und redet sanft auf mich ein. Er sagt mir, dass wir nicht zurückkönnen. Mit dem verletzten Bonni gäbe es nur noch ein Voran und vielleicht seien wir ja schon kurz vor dem Ausgang. Aber jetzt müsse ich hinüber. Ich schaffe das. Er ließe mich nicht allein. Er und Ecke würden mich am Seil sichern, ich würde garantiert nicht ins Wasser stürzen. Ich solle nun keine Angst mehr haben. Er redet sanft, aber auch beschwörend, als sei er sich nicht sicher, ob ich seine Worte
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