Herzschlag der Nacht
Christopher verstummte und sah in das angespannte, unglückliche Gesicht seiner Mutter. »Ich verdanke ihm mein Leben und meine Loyalität. Und so unansehnlich und ungebärdig er auch sein mag, ich liebe ihn zufällig.« Er blickte kurz zu Albert, der sogleich begeistert mit dem Schwanz auf den Boden klopfte.
Audrey sah unsicher aus, die Mutter verärgert.
In der beklemmenden Stille trank Christopher seinen Tee. Es zerriss ihm das Herz in der Brust, die veränderten Frauen zu sehen. Sie beide waren dünn und blass. Das Haar seiner Mutter war vollständig weiß geworden. Ohne Zweifel hatte ihnen Johns lange Krankheit eine Menge abverlangt, und ein Jahr Trauer erledigte den Rest.
Nicht zum ersten Mal dachte Christopher, dass es eine Schande war, welche Einsamkeit die gesellschaftlichen Regeln Trauernden auferlegten, wo sie doch gerade in dieser Zeit Gesellschaft und Zerstreuung am nötigsten brauchten.
Seine Mutter stellte ihre halb volle Tasse ab und schob ihren Stuhl zurück. Christopher erhob sich, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
»Ich kann meinen Tee nicht genießen, wenn mich diese Bestie anstarrt«, erklärte sie. »Das Tier könnte jeden Moment aufspringen und mir an die Kehle gehen.«
»Er ist mit der Leine an das Sofabein gebunden, Mutter«, sagte Audrey.
»Das ist unerheblich. Es ist eine wilde Kreatur, und ich verabscheue sie.« Mit rauschenden Röcken eilte sie aus dem Zimmer, den Kopf voller Verachtung hoch erhoben.
Da nun keine Notwendigkeit mehr bestand, tadellose Manieren zu zeigen, lehnte Audrey einen Ellbogen auf den Tisch und stützte ihr Kinn in die Hand. »Dein Onkel und deine Tante haben sie eingeladen, sie in Hertfordshire zu besuchen«, sagte sie. »Ich habe ihr zugeredet, der Einladung zu folgen, denn sie braucht dringend Abwechslung.«
»Das Haus ist zu dunkel. Warum sind alle Läden und Vorhänge geschlossen?«
»Das Licht tut ihren Augen weh.«
»Was für ein Unsinn.« Christopher sah Audrey stirnrunzelnd an. »Sie sollte hinfahren. Viel zu lange ist sie schon in diesem Mausoleum eingesperrt. Und dasselbe gilt für dich.«
Audrey seufzte. »Es ist beinahe ein Jahr vergangen, also darf ich bald in Halbtrauer gehen.«
»Was genau bedeutet Halbtrauer?«, fragte Christopher, der von diesen Ritualen nur eine vage Vorstellung hatte, weil sie sich ausschließlich auf Frauen bezogen.
»Es bedeutet, dass ich aufhören kann, mich zu verschleiern«, erklärte Audrey matt. »Ich darf graue und lavendelblaue Kleider tragen und dezenten Schmuck. Und ich darf zu einigen wenigen gesellschaftlichen Anlässen gehen, solange ich nicht den Eindruck erwecke, mich zu amüsieren.«
Christopher schnaubte verächtlich. »Wer erfindet solche Regeln?«
»Ich weiß es nicht. Aber, der Himmel sei uns gnädig, wir müssen sie befolgen oder uns dem Zorn der Gesellschaft stellen.« Audrey verstummte kurz. »Deine Mutter sagt, dass sie nicht in Halbtrauer gehen will. Sie beabsichtigt, für den Rest ihres Lebens Schwarz zu tragen.«
Christopher nickte. Ihn wunderte es nicht, dass die Liebe seiner Mutter zu ihrem ältesten Sohn durch dessen Tod noch gestärkt wurde. »Es ist offensichtlich, dass sie jedes Mal, wenn sie mich ansieht, denkt, ich hätte der verlorene Sohn sein sollen.«
Audrey öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn aber gleich wieder. »Es ist wohl kaum deine Schuld, dass du lebend zurückgekehrt bist«, sagte sie schließlich. »Ich bin froh, dass du hier bist. Und ich glaube, dass deine Mutter es im Grunde ihres Herzens auch ist. In diesem letzten Jahr geriet sie bedenklich aus dem Gleichgewicht, und ich denke, dass sie bisweilen nicht recht weiß, was sie sagt oder tut. Gewiss wäre es gut für sie, einige Zeit aus Hampshire wegzukommen.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich werde auch bald fort sein, Christopher. Ich möchte meine Familie in London besuchen. Und es wäre unschicklich, wenn wir beide allein im Haus sind.«
»Wenn es dir recht ist, begleite ich dich in ein paar Tagen nach London. Ich hatte ohnedies vor, hinzureisen und Prudence Mercer zu besuchen.«
Audreys Züge verfinsterten sich. »Aha.«
»Ich vermute, deine Meinung von ihr hat sich nicht geändert.«
»O doch, das hat sie. Sie ist heute schlechter als früher.«
Unwillkürlich fühlte er sich aufgerufen, Prudence in Schutz zu nehmen. »Warum?«
»In den vergangenen zwei Jahren hat sich Prudence den Ruf erworben, schamlos mit den Herren zu flirten. Ihr Ehrgeiz, einen vermögenden Mann zu heiraten,
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