Herzstoss
nur die prallen Gemälde irischer Künstler an der Wand über dem Bett und der Wand gegenüber. Insgesamt wirkte der Raum gleichzeitig dezent und verschwenderisch, eine berauschende Mischung aus altmodischer Zurückhaltung und moderner Dekadenz.
So ähnlich wie der Mann, der, ein weißes Laken träge um seinen noch immer schlanken Leib gewickelt, auf dem Rücken in dem französischen Bett lag und leise schnarchte. Marcy beobachtete, wie sich Vics Brust im Schlaf gleichmäßig hob und wieder senkte. Sie mochte eine behaarte Brust bei einem Mann und hatte nie wirklich begriffen, was die Frauen heutzutage so attraktiv an Typen fanden, die bis zur Gefährdung der eigenen Gesundheit gewachst und rasiert waren. Eine behaarte Brust war wie ein englischer Garten, wild und vage chaotisch, aber kräftig und unverwüstlich. Eine behaarte Brust hatte einfach etwas beruhigend Erwachsenes, dachte sie und setzte sich wieder auf die Bettkante.
Allerdings unterschied sich ihre Vorstellung von Sexappeal in vielen Aspekten von der anderer Frauen. So war sie zum Beispiel kein großer Fan von Muskeln. Ein Paar kräftige Bizepse machten sie eher nervös als erregt. Genauso wie Männer in Uniformen jedweder Art, einschließlich des Briefträgers. Du bist schlimmer als mein Pudel , hatte Judith geschimpft. Und wie viele Frauen konnten von sich behaupten, dass sie das Schnarchen eines Mannes wirklich mochten? Wie viele Frauen hörten in dem Geräusch nicht nur Trost, sondern eine Bestätigung des Lebens an sich? Als Kind war sie während der unerklärten längeren Abwesenheiten ihrer Mutter manchmal nachts ins Schlafzimmer ihrer Eltern geschlichen, hatte sich vor dem Bett auf den Boden gelegt und sich von dem gewaltigen Schnarchen ihres Vaters erfüllen lassen, das in dem Zimmer widerhallte wie ein Wiegenlied. Es versicherte sie seiner andauernden Gegenwart, während sie sich widerwillig dem Schlaf ergab.
Peter schnarchte nie, behauptete jedoch, dass sie schnarchte. »Warum musst du auch auf dem Rücken liegen?«, hatte er vorwurfsvoll gefragt, als ob sie mit Absicht schnarchen würde, um ihn zu ärgern. Und im Laufe der Jahre waren dann immer mehr Ärgernisse hinzugekommen: »Musst du so herumwühlen?« »Weißt du, dass du im Schlaf sprichst?« »Kannst du nicht einfach mal stillliegen?« Bis sie eines Morgens etwa ein Jahr nach Devons Unfall aufwachte, Peters Seite des Betts leer und ihren Mann schlafend im Gästezimmer vorfand.
Er war nie ins gemeinsame Schlafzimmer zurückgekehrt.
Fünf Monate später war er ganz ausgezogen.
Er hatte nur seine Kleidung und die Golfschläger mitgenommen.
Seufzend streckte Marcy die Hand aus, um über Vics Wange zu streichen, zog sie jedoch im letzten Moment zurück und legte sie in ihren Schoß. Was um alles in der Welt hatte sie geritten, mit einem Mann zu schlafen, den sie kaum kannte, einem Mann, den sie in einem Bus kennengelernt hatte, Himmel noch mal, einem Mann, der auch nach der Scheidung von seiner zweiten Frau noch den Tod seiner ersten betrauerte? Die Trauer lässt uns seltsame Dinge tun , hatte er gesagt.
War es Trauer, die sie in sein Bett gelockt hatte?
Oder war es Dankbarkeit?
Ich glaube, eine Mutter kennt ihr eigenes Kind , hatte er gesagt, und sie musste sich regelrecht zurückhalten, um nicht auf seinen Schoß zu krabbeln und sein Gesicht mit Küssen zu bedecken. Ja, vielen Dank, du glaubst mir!
Endlich glaubte ihr jemand.
War das alles, was es brauchte?
Oder war es Hoffnung, die sie hierhergeführt hatte. Hoffnung, deretwegen sie sich von einem praktisch Fremden hatte entkleiden und streicheln lassen, Hoffnung, deretwegen sie so bereitwillig auf seine Berührung reagiert hatte, Hoffnung, dass sie, weil Devon lebte, selber auch noch lebendig war, dass an jenem schrecklichen, kalten Oktobertag nicht zwei Menschen ertrunken waren, dass sie endlich das Wasser ausspucken konnte, das ihre Lungen schon viel zu lange füllte, dass sie ein- und ausatmen konnte, ohne zu spüren, wie sich ein Messer in ihre Brust bohrte.
Devon lebte, und das bedeutete, dass Marcy eine zweite Chance bekommen hatte, eine Chance, es richtig zu machen, eine Chance, dass sie beide wieder glücklich wurden.
Waren sie je wirklich glücklich gewesen?
»Was ist los, Schätzchen?«, erinnerte sie sich, in einer Julinacht vor fast genau fünf Jahren gefragt zu haben. Die Nacht, in der alles anders geworden war. Die Nacht, in der sie aufhören musste, so zu tun, als wären sie eine ganz normale Familie und
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