Herzstoss
Gleiche tun würde. »Ich heiße Marcy …«
»Was, nicht Marilyn?«, wollte Shannon entrüstet wissen, als wäre die Angabe eines falschen Namens die schlimmste von Marcys Verfehlungen. »Geben Sie mir das Baby«, verlangte sie mit einem nun leicht hysterischen Unterton. »Geben Sie sie sofort wieder her.«
An einem Nachbartisch erhob sich ein stattlicher Mann mittleren Alters. »Gibt es irgendein Problem?«
»Sie will mir das Baby nicht zurückgeben.«
Wie auf ein Stichwort schlug in diesem Moment Caitlin die Augen auf und fing an zu wimmern. Das Wimmern wurde rasch zu einem Schluchzen und wuchs sich zu lautem Geschrei aus.
»Geben Sie dem Mädchen ihr Baby zurück, Ma’am«, forderte der Mann Marcy auf, während nun auch andere Terrassengäste aufstanden.
»Natürlich gebe ich ihr das Baby zurück«, protestierte Marcy. »Ich will doch nicht das Baby stehlen, Herrgott noch mal.«
Caitlins Geschrei erfüllte die Luft, als Shannon auf Marcy zustürzte und die Menge der Schaulustigen sich enger um sie drängte. Zwei Möchtegern-Ritter fingen plötzlich an zu raufen. Schläge wurden verteilt. Eine Faust traf in dem Gemenge Marcys Wange.
Und im nächsten Augenblick war alles ein einziges Chaos.
KAPITEL VIERZEHN
»Wollen Sie uns nicht erzählen, was geschehen ist?«, fragte der Polizeibeamte.
»Das habe ich Ihnen doch schon erzählt.«
»Dann erzählen Sie es uns noch einmal.«
Marcy senkte den Kopf, starrte auf den Betonboden und spürte den pochenden Schmerz in ihrer linken Gesichtshälfte. Konnte sie die ganze traurige Geschichte noch einmal durchgehen? Was konnte sie noch sagen? Dass alles ein riesiger Fehler war? Dass es ihr leidtat? Dass sie weitere kostbare Zeit vergeudeten? Mittlerweile hatte Shannon Audrey bestimmt angerufen und ihr erzählt, dass irgendeine Verrückte namens Marcy Fragen über sie stellte und jetzt in der Polizeiwache in der South Mall festgehalten wurde. »Ich habe nicht versucht, das Baby zu stehlen«, sagte sie stattdessen, sicher, dass Devon in diesem Moment ihre Taschen packte, um die Stadt zu verlassen. Sie hob den Kopf und sah die beiden Männer und die Frau in den adretten blauen Uniformen an, bevor sie den Blick rasch wieder abwandte. Sie hasste Uniformen.
»Das wissen wir«, räumte der ältere der beiden Männer nach einer Pause ein. Er hieß Christopher Murphy, war etwa vierzig Jahre alt mit kurzem blondem Haar und einer breiten Nase, die mindestens einmal gebrochen und nicht wieder gerichtet worden war. Er saß auf der Kante eines breiten Eichenholzschreibtischs, der den größten Teil des Zimmers einnahm, und lächelte nachsichtig.
Seine Zähne könnten eine gründliche Reinigung vertragen , hörte sie Peter sagen.
»Das wissen Sie?«, wiederholte Marcy.
»Das Mädchen, Shannon Farrell, hat eine Aussage gemacht und erklärt, dass wir den ganzen Zwischenfall vergessen könnten.«
»Und was mache ich dann hier?« Marcy machte Anstalten von ihrem Stuhl aufzustehen. »Wenn Sie mir einfach meinen Pass zurückgeben würden …« Sie wies mit dem Kopf auf einen Stapel Papiere auf dem Schreibtisch. Ihr Pass lag zuoberst.
»Bitte setzen Sie sich, Mrs. Taggart.«
Marcy sah sich flüchtig in dem fensterlosen Raum um und war überrascht, wie vertraut er ihr vorkam. Wie kam es, dass Polizeiwachen überall auf der Welt gleich aussahen? Verpflichteten alle denselben Inneneinrichter? Gab es ein spezielles Handbuch, das die entsprechenden Behörden an potenzielle Architekten ausgaben? Obwohl Marcy außer in Filmen und im Fernsehen eigentlich noch nicht viele Polizeiwachen von innen gesehen hatte.
Nur eine, dachte sie schaudernd und verdrängte die Erinnerung, bevor sie sich festsetzen konnte.
Trotzdem hatte sie von einem Land wie Irland mit seinem ausgeprägten Geschichtsbewusstsein und dem natürlichen Sinn fürs Melodramatische etwas Farbenfroheres erwartet. Das alte Cork City Gaol, das sie mit ihrer Reisegruppe besichtigt hatte, war immerhin angemessen majestätisch gewesen, ein dreistöckiges burgartiges Gebäude, an dessen Zellenwänden noch die Originalgraffiti prangten, obwohl die Häftlinge selbst mittlerweile aus Wachs waren. Im Gegensatz dazu wirkte das Gebäude der neuen Bridewell Garda Station an der alten Stadtmauer am nördlichen Kanal des Lees relativ modern. Die Wache, in der sie zurzeit festgehalten wurde, war dagegen eine uninspirierte Mischung aus beidem – alt, ohne imposant zu sein, modern, aber nicht elegant, ein Durcheinander verschiedener Stile,
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