Herzstück mit Sahne: Roman (German Edition)
ich den Wasserkocher fülle, schaue ich aufs Dorf und die tosenden dunklen Wellen hinunter. Das Fenster ist angelehnt, der Wind trägt die Musik aus dem Pub herüber. Vom Meer nähert sich eine gespenstische Nebelwand.
Ich denke gerade über eine Szene nach, in der Millandra vor der bösen Lady Cordelia flüchtet und sich im dichten Nebel verirrt, als ich hinter mir lautes Schniefen vernehme. Ich drehe mich um und sehe Mads im Sessel in der Ecke kauern. Sie hält die halbe Kleenex-Fabrik in Händen und heult sich die Augen aus dem Kopf.
»Um Himmels willen, was ist denn los?«, frage ich, nehme sie in den Arm und lasse sie ein Weilchen weinen, bis meine Schulter sich klatschnass anfühlt. Mads schnieft wieder lautstark, hebt den Kopf, wischt sich mit dem Handrücken übers Gesicht und atmet zittrig ein. Ihre Augen sind so zugeschwollen, als hätte sie fünf Runden gegen Mike Tyson hinter sich. Sie muss schon seit Stunden am Weinen sein.
»Entschuldige«, keucht sie und streicht sich feuchte Haarsträhnen aus dem erhitzten Gesicht.
Ich quetsche mich neben ihr in den Sessel. »Was ist passiert?«
Sie holt mühsam Luft. »Womit soll ich anfangen?«
»Als ich dich zuletzt gesehen habe, ging’s dir noch gut.« Ich sehe noch vor mir, wie sie im Nebel verschwand, mit dem festen Vorsatz, Richard die Eier abzuschneiden. »Wo sind denn die anderen hin?«
»Guy ist mit Jewell im Pub, und ich bin hergekommen, um nach Richard zu schauen. Aber er war nicht da!« Erneut laufen ihr Tränen aus den Augen und rinnen ihre Wangen hinunter. »Er ist weg, und ich weiß nicht, wo er ist!«
»Irgendwas für die Kirche?«, mutmaße ich hektisch. »Gebetsstunde? Äm … Choralprobe?«
»Heute Abend ist aber nichts.« Mads tupft sich mit einem Kleenex, das in etwa so aufgelöst aussieht wie sie selbst, die Augen ab. »Und er ist auch in keinem der Pubs. Ich war überall.«
Ich bin ratlos. »Vielleicht ist er bei Freunden zu Hause? Oder besucht ein Mitglied der Gemeinde? Es muss was Harmloses sein, Mads – es handelt sich schließlich um Richard.«
»Früher hätte ich dir zugestimmt, aber jetzt nicht mehr.« Sie fördert einen Briefumschlag aus ihrer Jackentasche zutage. »Das hab ich gefunden, als ich oben auf dem Kleiderschrank abgestaubt habe.«
»Du hast den Schrank abgestaubt?« Das ist zutiefst beunruhigend. Mads muss krank sein. Die Sache ist offenbar dramatisch.
Mads macht ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich hab nach Geld gesucht. Rich versteckt es da manchmal.«
»Und was ist mit: Du sollst nicht stehlen?«
»Was ist mit: Du sollst nicht die Ehe brechen?« Sie streckt mir den Umschlag hin. »Schau dir das an. Mal sehen, ob du dann immer noch behauptest, es sei harmlos.«
Ich öffne den Umschlag so vorsichtig, als enthalte er eine Briefbombe. Es handelt sich aber um fünf neue Zehn-Pfund-Scheine und einen zusammengefalteten Zettel. Mit zitternden Händen entfalte ich ihn und lese:
Richard! Du warst fantastisch! Ich danke Dir! Isabelle xxx
»Wer ist Isabelle?«, frage ich.
»Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Mads bricht wieder in Tränen aus. »Irgendeine Schlampe, mit der er vögelt, vermute ich mal.«
»Lass uns keine voreiligen Schlüsse ziehen«, rate ich, was aus meinem Mund ziemlich albern klingt, da ich Meisterin im Voreilige-Schlüsse-Ziehen bin. »Vielleicht ist sie einfach nur ein dankbares Gemeindemitglied.«
»Und wieso gibt sie ihm Geld?«
»Vielleicht gehört es ihm.«
»Richard besitzt nicht mal fünfzig Pence, geschweige denn fünfzig Pfund. Er hat eine Affäre, ich weiß es genau. Deshalb ist er ständig unterwegs, joggt wie ein Verrückter und übergießt sich jedes Mal förmlich mit After Shave, wenn er das Haus verlässt.«
»Das wissen wir nicht«, widerspreche ich in beruhigendem Tonfall. Vom Umgang mit hysterischen Teenagern weiß ich, dass sie einem irgendwann zustimmen, wenn man mit Entschiedenheit auftritt. Und man darf sich keinerlei Angst anmerken lassen; wie Tiere wittern Teenager jede noch so kleine Schwäche schon auf hundert Meter Entfernung.
»Hör auf mit diesem Lehrergehabe«, faucht Mads.
Autsch. Hatte ganz vergessen, dass sie dreißig ist, nicht dreizehn.
»Nein, er hat eine Affäre, und wir werden rauskriegen, mit wem.« Mads rappelt sich auf, tappt zum Schrank und holt eine Flasche Cognac heraus.
Wieso ist schon wieder von »wir« die Rede?
»Ich bin so froh, dass du hier bist, Katy.« Sie kippt Courvoisier in Gläser und lächelt mich matt an. »Ich wüsste gar
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