Herztod: Thriller (German Edition)
mal, stimmt das wirklich, dass Sie sich jedes Wort merken können, das im Gespräch und auch bei Vernehmungen fällt?«
Hannah unterdrückte ein Seufzen und drehte sich langsam zu dem LKA-Mann um. Irgendwer in Berlin hatte mal wieder nicht den Mund halten können. »Ja, das ist richtig. Ich kann mir Gesprächsverläufe sehr gut merken, so wie andere fehlerlos und schnell im Kopf rechnen oder innerhalb kurzer Zeit kinderleicht Sprachen erlernen können«, erklärte sie beiläufig.
Das war eine famose Untertreibung, aber Hannah ließ sich nicht gerne über ihre spezielle Begabung aus, und sie hatte auch keine Lust, zu Kunststückchen aufgefordert zu werden, frei nach dem Motto: »Ist ja toll! Und was hab ich vor fünf Minuten gesagt?« Wer nicht mehr wusste, was er vor fünf Minuten erzählt hatte, sollte ihrer Ansicht nach unbedingt ein Gedächtnistraining absolvieren, aber mit derartigen Ratschlägen machte man sich auch nicht gerade beliebt. Mit knappem Gruß und einem unverbindlichen Lächeln auf den Lippen verließ sie das Büro.
Vor vier Jahren war sie bei einem Crosslauf im Grunewald schwer gestürzt und hatte sich eine erhebliche Kopfverletzung zugezogen. Die war gut verheilt; zurückgeblieben war jedoch die plötzliche Fähigkeit, Gespräche zitatgenau zu erinnern, und zwar jedes einzelne, dessen sie sich nach dem Unfall konzentriert entsann. Niemand war verblüffter als Hannah. Sie vergaß die Worte nicht mehr, die sie gehört hatte, was zugleichSegen und Fluch bedeuten konnte, wie sie bald feststellte, und gehörte damit von einem Tag auf den anderen zum Kreis der Savants – Menschen mit sogenannten Inselbegabungen, für die die Forschung inzwischen die unterschiedlichsten Ursachen und Ausprägungen entdeckt hatte. Unter ihnen gab es erstaunliche Gedächtnis-, Sprach- und Mathematikkünstler, Musikgenies und einiges mehr, wie Hannah bei Recherchen herausfand und im Gespräch mit ihrem Arzt erfuhr. Viele Savants waren Autisten und verfügten von Geburt an über ihre außergewöhnliche Fähigkeit, bei anderen entstand sie erst später, zum Beispiel nach einem Unfall mit Hirnschädigung.
Hannah hatte sich entschlossen, nicht mehr über ihre Fähigkeit zu sprechen, als unbedingt nötig war – anfangs weil sie verblüfft war, später um niemanden zu verunsichern oder sich neugierig begaffen zu lassen. Inzwischen nutzte sie ihre Erinnerungsfähigkeit im Beruf wie ein inneres Aufnahmegerät, um im geeigneten Augenblick Zeugen oder Verdächtige mit Einzelheiten ihrer Aussagen zu konfrontieren oder sie miteinander zu vergleichen und Zusammenhänge intuitiv zu erfassen. Privat bemühte sie sich, die Begabung auszublenden und war zugleich fasziniert und amüsiert, wenn sie spürte, wie Achim, der durchaus impulsiv war, in einer heftigen Diskussion oder Auseinandersetzung immer wieder darum rang, die richtigen Worte zu finden. »Nicht zu fassen«, sagte er ein ums andere Mal, »dass du dir wirklich jeden Scheiß merkst, den ich von mir gebe – ob du willst oder nicht.«
Manchmal fragte sie sich, wann ihr Gehirn seine Aufnahmekapazität erreicht haben und anfangen würde, auszusortieren, und ob sie Einfluss darauf hatte, welche Inhalte verblassten. Sie war zutiefst dankbar dafür, dass sie nicht bereits damals, als Liv verschwand, über die Fähigkeit verfügt hatte.
Caroline Meisner war vor zehn Tagen, am Freitag vor einer Woche zum letzten Mal gesehen worden. Ihre Angehörigen hatten sie als vermisst gemeldet, nachdem sie zu einem Familienfestnicht erschienen und nirgendwo erreichbar gewesen war. Die Beschreibung eines Passanten, der sich auf die Vermisstenmeldung in der Zeitung bei der Polizei gemeldet hatte, um auszusagen, dass er die junge Frau am Elbufer in Blankenese gesehen hatte, klang so überzeugend, dass umgehend eine zweite Anzeige mit diesem wichtigen Hinweis geschaltet worden war. Der Mann hatte sogar im Detail beschreiben können, wie Caroline gekleidet gewesen war. Das war ungewöhnlich.
Hannah zog ihr Handy heraus. Sie war auf direktem Weg nach Bergedorf gefahren, wo Carolines Familie lebte, und studierte in einem kleinen Café in der Nähe des Alten Bahnhofs die Akte. Der hilfreiche Zeuge hieß Michael Folk, war jedoch weder unter seiner Festnetznummer noch übers Mobiltelefon erreichbar. Hannah entschloss sich, keine Nachricht zu hinterlassen, sondern es später noch einmal zu versuchen.
Carolines Eltern führten gemeinsam mit der älteren Schwester und deren Lebensgefährten einen
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