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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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verband.
    »Wunden, die heilen«, sagte sie.
    Hesmat sah in ihren Augen Wunden, die nicht heilen würden. Das Schwein rief wieder, es grunzte wieder, die Frau flehte und weinte wieder und kam wenig später besudelt und gedemütigt mit neuen, sichtbaren Wunden zu ihnen zurück.
    »Erzählt mir von draußen«, sagte sie.
    Sie erfanden Geschichten. Sie mussten sie erfinden. »Schöne Geschichten muss man erfinden«, sagte Fahid.
    Hesmat hatte seine Kleidung gewaschen und alles auf die Wäscheleine gehängt. Nackt hockte er an der Hausmauer und schaute dem sauberen Stoff beim Trocknen zu. Die Frau zählte seine Wunden mit ihren Fingern. Sie sprach nicht, doch ihre Hände halfen.
    Nach zwei Wochen waren die schlimmsten Wunden und die meisten Mückenstiche und aufgekratzten Hautstellen verheilt.
    »Du hast Kraft«, sagte sie. »Dein Körper heilt gut. Du hast einen starken Willen.«
    »Wir müssen warten«, sagte Bachtabat, als er wiederkam. »Schlechte Nachrichten. Sie haben den Zug gestoppt. Jetzt ist Schluss, mindestens für einen Monat. Irgendjemand hat da wohl zu wenig bezahlt.«

    Siebzig Kilogramm Heroin und Opium machten sie zu Gefangenen dieser Stadt.
    Die Zollbeamten in Russland hatten die ganze Ladung Drogen hochgehen lassen und als Strafe für die schlechte Arbeit der Polizei wurde die Zugstrecke gesperrt. Für Hesmat und Fahid hieß das, zu warten. Sie hatten keine Papiere und längst Angst vor jeder Uniform, jedem Beamten, jedem, der sie genauer musterte. Die Straßen waren voll von Uniformierten, und nur in der Abenddämmerung wagten die Jungen sich vor die Tür des Hauses und setzten sich auf die Bordsteinkante, um den Wagen nachzusehen, die an ihnen vorbeijagten. Fahid pfiff den Mädchen nach.
    »Lass das«, sagte Hesmat. »Ich will keine Probleme.«
    Manchmal spielten sie mit ein paar Kindern aus der Nachbarschaft Fußball mit alten Dosen, bis sich Hesmat an einer die Zehe schnitt.
    Im Haus fanden sie einen alten Drachen. Sie reparierten das alte Papier und ließen den Drachen in der Nacht steigen. Sie zogen an einer Schnur, die über ihnen in der Dunkelheit verschwand.
    »Wie eine Strickleiter in den Himmel«, sagte Fahid.
    Noch immer regnete es nicht, die Hitze war unerträglich. Es war Hochsommer. Mit dem Schweiß trieb es den Menschen alles Leben aus dem Körper. Sogar das Schwein im Schlafzimmer der Frau hatte aufgehört zu grunzen. Seine Kraft reichte gerade noch zum Fressen aus.
    Die Abflüsse verweigerten ihren Dienst und in der Wohnung stank es unerträglich. Sie halfen der Frau, die Wasserkübel zu tragen, und erzählten ihr weiter erfundene Geschichten.
    »Wir sind Brüder«, erklärte Fahid und erfand irgendwelche gemeinsamen Abenteuer, die sie als Brüder erlebt hatten. Die
Hitze lähmte schließlich sogar den Kopf und die Geschichten wurden zäh. Die Nächte brachten einen Hauch von Abkühlung, aber die Albträume blieben. Hesmat träumte jede Nacht. Die Träume hörten nicht auf. Er träumte von seinen Eltern. Er träumte von dem Loch unter ihrem Haus in Mazar, von der Höhle in den Bergen mit den Toten. Sein Herz raste. Er träumte vom Gefängnis, von der Zugfahrt, von den Schlägen. Er erwachte und hörte Fahid, der im Schlaf weinte.
    Was hatte die Flucht aus ihnen gemacht? Wo waren die Träume, die sie aus Afghanistan geführt hatten? Sie waren verschwunden. Zurückgeblieben war nur die schwarze Nacht, draußen und auch in ihnen drin.
    Fahid wollte nach Duschanbe zurück.
    »Ich halte es hier nicht mehr aus«, sagte er. »Wer weiß, ob der Zug tatsächlich in einem Monat wieder fährt. Ich halte die Hitze nicht mehr aus und vor allem nicht mehr das Schwein. Sein Gestank bringt mich um. Mir wird schlecht, wenn ich ihn nur sehe.«
    Wie aufs Stichwort stand der Mann in der Tür. Er war nackt bis auf seine Unterhose. Sie rochen ihn, bevor sie ihn sahen. Er schaute die beiden an, rieb sich seinen Schwanz und lachte.
    »Ich muss hier raus«, sagte Fahid. Er wollte zurück zu Hanif. Dort würde er sich erholen. »Vielleicht wird es nächstes Jahr besser. Ich habe die Schnauze voll.«
    »Ich kann nicht«, sagte Hesmat. »Wenn ich jetzt zurückgehe, werde ich nie wieder in diesen Zug steigen. Ich weiß es. Wenn ich jetzt aufgebe, gebe ich für immer auf.«
    Er hatte über Hanif und seine Frau nachgedacht. Wie gut würde es ihnen in Duschanbe gehen. Hanif würde sein Versprechen halten. Er würde Hesmat aufnehmen wie seinen eigenen Sohn. Er konnte nicht zurück, um noch einmal zu verschwinden. Er

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