Hesmats Flucht
hatte seine Tante gesagt. »Du wirst sehen, sie werden das alles vergessen und du wirst deine Ruhe haben.«
»Was können sie schon von einem kleinen Jungen wollen, der nichts weiß?«, hatte der Großvater ergänzt, während er sich Reis in den Mund schob. »Was willst du eigentlich mit dem ganzen Geld?«
»Ich gehe nach London!«, sagte Hesmat. »Ich mache das, was sich meine Eltern gewünscht haben. Ich gehe weg und werde in England einen guten Beruf erlernen und ein achtsamer Mann werden.«
Sein Großvater schüttelte den Kopf. Er hatte wohl nicht recht gehört. »Du bist ja vollkommen verrückt. Du wirst es nicht einmal bis zur Grenze schaffen!«
Hesmat war aufgestanden und hatte ihm ins Gesicht gesehen. »Es ist meine Entscheidung. Meine Mutter wollte, dass
ich mit Vater aus diesem Land fortgehe. Jetzt sind beide tot. Ich werde nicht hierbleiben.«
»Und was ist mit deinem Bruder?«, wollte sein Großvater wissen. »Willst du ihn vielleicht mitnehmen?«
»Ich werde ihn holen, wenn ich in London bin.«
»London!«, sein Großvater hatte gelacht. »Wer hat dir das denn in den Kopf gesetzt? Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?«
»Ich weiß, was ich tue«, hatte Hesmat entgegnet.
London! Sein Großvater hatte geschwiegen und den Kopf geschüttelt. »Ihr habt das Haus verschenkt! Ich hätte den doppelten Preis dafür bekommen können. Ich kann die Sache nicht mehr rückgängig machen, aber dem Kleinen steht auf jeden Fall die Hälfte des Geldes zu. Du wirst mir 3500 Dollar für deinen Bruder hierlassen, vorher kannst du nicht gehen. Womit soll ich sein Essen bezahlen? Er braucht das Geld für die Schule. Gib mir das Geld, du verlierst es nur.«
Alle Augen im Raum waren auf Hesmat gerichtet. Die Frauen schwiegen, die Kinder hatten aufgehört zu schreien. 3500 Dollar würden ihnen das Leben um einiges erleichtern.
Hesmat hatte überlegt. Du darfst ihnen nicht vertrauen. Werde nicht so wie sie. Versprich mir das. Er hörte noch jedes Wort seiner Eltern. Sie kannten die Familie. Lange genug hatte Hesmats Mutter unter ihr gelitten. Er zweifelte nicht an dem, was er tat. Ihre Blicke, ihre Gier bestärkten seinen Entschluss.
»Ich werde dich nicht um Erlaubnis fragen«, hatte er schließlich gesagt.
Sein Großvater starrte ihn an. Noch nie hatte ein elfjähriger Junge gewagt, so mit ihm zu sprechen. Er war das Familienoberhaupt. Selten wagte es überhaupt jemand, seine Stimme gegen ihn zu erheben. Dieser Bengel hatte die Grenze überschritten.
»Aber du bist ein Dieb, wenn du deinem Bruder das Geld nicht gibst«, hatte eine Tante geschimpft.
»Nein«, hatte Hesmat bestimmt entgegnet. »Das bin ich nicht. Ich werde es ihm später geben. Sobald er alt genug ist, wird er seinen Teil bekommen. Wenn ich in London bin, werde ich Arbeit finden. Ich werde studieren und ich werde Arzt werden. Ich werde genug Geld haben, um ihn zu mir zu holen.«
Sie hatten geschwiegen.
»Du wirst maximal sterben«, hatte sein Großvater schließlich gesagt.
»Da hast du dem Alten aber mächtig die Meinung gesagt«, lächelte Fahid, als er die Geschichte des Geldes, das jetzt vor ihnen lag, zu Ende angehört hatte. »Du hast ihm wirklich die Stirn geboten. Du bist ein stolzer Mann.«
Fahid machte ihm keinen Vorwurf. Er wusste genau, dass Hesmat all sein Geld verloren hätte, wenn er nur einmal vor den Männern im Gefängnis, im Zug oder in den Polizeistationen das Geld hervorgeholt hätte.
»Du würdest nicht mehr leben«, sagte er. »Du hast richtig gehandelt.«
»Ich will, dass du mit mir kommst«, sagte Hesmat. »Ich kann dir ein wenig Geld leihen. Lass es uns noch einmal probieren! Wenn sie uns schnappen, werde ich uns mit dem Geld freikaufen und wir gehen zurück nach Duschanbe und leben wie Brüder. Hanif wird uns helfen. Aber jetzt kann ich noch nicht. Ich muss es noch einmal probieren.«
»Nein«, sagte Fahid. »Ich habe Angst. Ich spüre, dass ich es nicht schaffen werde.«
»Wir werden es schaffen«, sagte Hesmat. »Zusammen schaffen wir alles.«
Bachtabat brauchte Geld. Er wollte eintausend Dollar. »Wisst ihr, was für Ausgaben ich schon wegen euch hatte?«
»Frag Hanif«, antwortete Fahid kühl.
»Aber ihr habt es doch gesehen«, wehrte sich der Schlepper. »Ich habe kein Geld mehr. Ich kann nicht einmal mehr den Schaffner bestechen.«
Fahid war dagegen.
»Aber es ist mein Geld«, hatte Hesmat gesagt und Bachtabat schließlich fünfhundert Dollar gegeben. »Wenn es diesmal nicht klappt, wirst du
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